Ferne Ufer
unter den anderen Ärzten des Bostoner Krankenhauses ebenso hervor wie ich - ich war die einzige Frau unter den angehenden Medizinern und er der einzige Schwarze.
Durch diese Sonderstellung wurden wir besonders aufmerksam aufeinander - was uns beiden bewußt war, obwohl wir nie darüber sprachen. Wir konnten gut zusammenarbeiten, hüteten uns aber, uns zu weit vorzuwagen. Und so wollten wir erst am Ende des praktischen Jahres wahrhaben, daß sich zwischen uns eine Bindung entwickelt hatte, wenn sie auch zu zart war, um Freundschaft genannt zu werden.
Ich hatte an jenem Tag meine erste Operation ohne Aufsicht durchgeführt - eine problemlose Blinddarmentfernung bei einem ansonsten gesunden Jugendlichen. Eigentlich gab es keinen Grund, mit irgendwelchen Komplikationen zu rechnen. Trotzdem, ich fühlte mich für den Jungen verantwortlich, und obwohl meine Schicht bereits zu Ende war, wollte ich warten, bis er aus der Narkose erwachte. Ich zog mich um und ging in den Ärzteraum.
Joseph Abernathy saß dort, dem Anschein nach in eine Ausgabe des US News & World Report vertieft. Als ich eintrat, nickte er mir zu und wandte sich wieder seiner Lektüre zu.
Im Ärzteraum lagen Stapel von Zeitschriften und zerfledderte Taschenbücher, die von entlassenen Patienten stammten. Auf der Suche nach Zerstreuung legte ich erst eine sechs Monate alte Ausgabe von Studien zur Gastroenterologie beiseite, dann ein altes Time -Magazin und einen beachtlichen Stapel des Wachturms . Schließlich griff ich mir ein Buch und setzte mich hin.
Es hieß Der kühne Pirat . »Eine leidenschaftliche Liebe, so grenzenlos wie die karibische See«, las ich darunter. Aha, die Karibik - genau das richtige, um der Realität kurzzeitig zu entfliehen. Ich schlug das Buch mittendrin auf, und ohne mein Zutun öffnete es sich auf Seite 42.
Das, was dort geschrieben stand, war so aberwitzig kitschig, daß ich nicht mehr aufhören konnte. Und als ich zu der Stelle kam, wo der kühne Pirat seine private Eroberung vollendete, entfuhr mir ein Glucksen. Dr. Abernathy spähte neugierig über den Rand seiner Zeitschrift. Hastig setzte ich einen Ausdruck würdevoller Konzentration auf und blätterte die Seite um.
Aber wenig später las ich: »Er bewegte sich mit fast schon schmerzender Langsamkeit, und so durchstach sein glühender Speer das Häutchen ihrer Jungfernschaft.« Wider Willen entfuhr mir ein Ausruf. Das Buch rutschte mir aus der Hand und fiel klatschend neben Dr. Abernathys Füßen zu Boden.
»Entschuldigung«, murmelte ich und bückte mich mit hochrotem Kopf, um es aufzunehmen. Als ich mit dem kühnen Piraten in der schweißnassen Hand wieder auftauchte, sah ich, daß Dr. Abernathy nicht seine gewohnte ernste Miene zur Schau trug, sondern bis über beide Ohren grinste.
»Lassen Sie mich raten«, sagte er. »Hat Valdez gerade seinen glühenden Speer eingesetzt?«
»Ja«, antwortete ich, während ich unbeherrscht loskicherte. »Woher wissen Sie das?«
»Weil es die Stelle weiter vorn ist«, antwortete er. »Sonst hätte es nur noch Seite 73 sein können, wo er ihre rosigen Hügel mit seiner hungrigen Zunge labt.«
»Er macht was ?«
»Sehen Sie selbst.« Er schlug das Buch auf und zeigte auf einen Absatz in der Mitte der Seite.
Und wirklich »…schob Valdez die Decke fort, senkte sein rabenschwarzes Haupt und labte ihre rosigen Hügel mit seiner hungrigen Zunge. Tessa stöhnte auf…« - und ich quietschte.
»Und Sie haben das wirklich gelesen?« fragte ich, während ich mich schweren Herzens von Valdez und Tessa trennte.
»Aber natürlich«, antwortete er mit einem breiten Grinsen. Rechts hinten hatte er einen Goldzahn. »Zwei- oder dreimal. Es ist ganz passabel, wenn auch nicht gerade das beste.«
»Nicht das beste? Gibt’s noch mehr von der Sorte?«
»Gewiß. Warten Sie…« Er stand auf und sah den Stapel abgegriffener Taschenbücher auf dem Tisch durch. »Nehmen Sie die ohne Einband«, riet er mir. »Die lohnen sich wirklich.«
»Und ich habe gedacht, Sie lesen nichts anderes als medizinische Fachzeitschriften«, sagte ich.
»Wenn ich sechsunddreißig Stunden lang in Eingeweiden herumwühle, will ich in meiner Wartezeit doch nichts über die ›Fortschritte in der Gallenblasenentfernung‹ erfahren! Da segle ich lieber mit Tessa und Valdez durch die Karibik.« Noch immer
schmunzelnd sah er mich an. »Von Ihnen habe ich aber auch nicht erwartet, daß Sie sich in etwas anderes vertiefen als in das Ärzteblatt, Lady Jane«, sagte er.
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