Ferne Ufer
Nachdem Mr. Willoughby noch ein paar Tintenfische gefangen und an den Pelikan verfüttert hatte, holte er einen weiteren weichen Stoffstreifen aus den Tiefen seines Anzugs und band ihn dem Vogel um den Hals.
»Nicht ersticken«, erklärte er. »Darf Fisch nicht schlucken.« Dann befestigte er ein dünnes Seil an dem Halsband, bedeutete mir zurückzutreten und löste mit einem Ruck die Bänder um die Flügel des Pelikans.
Überrascht über die plötzliche Freiheit, watschelte der Vogel auf dem Kasten auf und ab, schlug ein-, zweimal mit seinen riesigen, knochigen Flügeln und erhob sich in den Himmel.
Ein Pelikan auf dem Boden sieht ziemlich komisch aus und wirkt ganz unbeholfen mit seinen Watschelfüßen und seinem plumpen Schnabel. Ein fliegender Pelikan gleicht jedoch einem Wunder - von primitiver Anmut, erstaunlich, wie ein Flugsaurier neben den geschmeidigeren Möwen und Sturmvögeln.
Ping An, der Friedliche, stieg hoch, bis sich seine Leine straffte, versuchte angestrengt, noch weiter aufzusteigen, und begann dann fast resigniert zu kreisen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte Mr. Willoughby zum Himmel, wanderte rund ums Deck und führte den Pelikan wie einen Drachen. Die Matrosen in der Takelage und auf Deck hielten in ihrer Arbeit inne und beobachteten fasziniert, was vor sich ging.
Jäh faltete der Pelikan seine Flügel und tauchte fast lautlos ins Wasser. Als er mit überraschter Miene wieder an der Oberfläche erschien, begann Mr. Willoughby, ihn einzuholen. Wieder an Bord, ließ sich der Pelikan nur widerwillig dazu bringen, seinen Fang herzugeben, aber schließlich duldete er, daß sein Meister behutsam in den ledrigen Kehlsack griff und eine schöne, fette Seebrasse herausholte.
Mr. Willoughby lächelte dem glotzenden Picard freundlich zu, zog ein kleines Messer heraus und zerteilte den immer noch lebenden Fisch der Länge nach. Dann hielt er dem Vogel mit einer Hand die Flügel fest, lockerte mit der anderen das Halsband und bot ihm ein zuckendes Stück Fisch an, das ihm Ping An gierig aus der Hand schnappte und schluckte.
»Seins«, erklärte Mr. Willoughby und wischte sich Blut und Schuppen achtlos an der Hose ab. »Meins«, er deutete auf den halben Fisch, der nun reglos auf dem Segelkasten lag.
Eine Woche später war der Pelikan vollkommen zahm, durfte mit dem Halsband, aber ohne Leine frei fliegen, kehrte zu seinem Meister zurück und würgte glänzende Fische vor ihm aus. Wenn er nicht fischte, bezog Ping An auf einem der Masten Stellung - sehr zum Mißvergnügen der Matrosen, die das Deck darunter schrubben mußten - oder watschelte neben Mr. Willoughby auf dem Deck auf und ab.
Die Mannschaft zeigte sich sowohl von Ping Ans Fischerei wie auch von seinem gefährlichen Schnabel beeindruckt und hielt sich von Mr. Willoughby fern, der Tag für Tag neben dem Mast seine Schriftzeichen malte, während sein gelbäugiger Freund über ihn wachte.
Hinter einem Mast verborgen, sah ich eines Tages Mr. Willoughby bei der Arbeit zu. Er saß ruhig da und betrachtete mit stiller Zufriedenheit eine voll beschriebene Seite. Natürlich konnte ich die Zeichen nicht lesen, aber die Schrift bot einen höchst angenehmen Anblick.
Dann sah er sich um, wie um zu prüfen, ob niemand käme, ergriff den Pinsel und fügte mit großer Sorgfalt in der oberen linken Ecke des Blatts ein letztes Zeichen hinzu. Auch ohne zu fragen, war mir klar, daß es sich um seine Unterschrift handelte.
Schließlich seufzte er und schüttelte den Kopf. Er legte seine
Hände auf das Blatt und faltete es rasch mehrmals zusammen. Dann stand er auf, ging zur Reling, streckte seine Hände aus und ließ das Blatt ins Meer fallen.
Es flatterte auf die Wasseroberfläche zu, doch dann wurde es vom Wind erfaßt und emporgewirbelt, ein weißer Fleck, der in der Ferne entschwand.
Mr. Willoughby verweilte nicht, um es zu beobachten, sondern wandte sich ab und ging nach unten, das Gesicht verklärt von seinem Traum.
45
Mr. Willoughbys Geschichte
Während wir in südlicher Richtung weitersegelten, wurden die Tage und Abende wärmer, und die Seeleute versammelten sich nach dem Essen immer häufiger auf dem Vorderdeck, um zu singen, zu tanzen, oder Geschichten zu erzählen.
Eines Abends wandte sich Maitland, der Kabinensteward, an Mr. Willoughby, der wie üblich am Fuße des Masts kauerte und seinen Becher an die Brust drückte.
»Wie ist es gekommen, daß Sie China verlassen haben, Willoughby?« fragte Maitland neugierig. »Ich habe bisher
Weitere Kostenlose Bücher