Ferne Ufer
niedergelassen hatte. »Als reichte es nicht schon, daß ich die eine Hälfte dieses elenden Haufens vom Typhus heilen will, jetzt versucht auch noch die andere Hälfte, sich mit meinem Alkohol umzubringen! Sollen sie doch alle zur Hölle fahren!«
Die Seeschwalbe legte den Kopf schief, kam anscheinend zu dem Schluß, daß ich nicht eßbar sei, und flog von dannen. Nach allen Himmelsrichtungen erstreckte sich der leere Ozean. Vor mir lagen die Westindischen Inseln, auf denen Ian seinem unbekannten Schicksal entgegensah; hinter mir weit abgeschlagen waren Jamie und die Artemis . Und ich steckte in der Mitte mit lauter versoffenen
englischen Seeleuten und einem Zwischendeck voller Todeskandidaten.
Ich stand noch eine Weile da und gab mich meinem Zorn hin, dann schlug ich den Weg zur Kapitänskajüte ein. Mir war es gleich, ob Kapitän Leonard gerade eigenhändig damit beschäftigt war, den Kielraum auszupumpen. Er würde mit mir reden.
In der Tür zu seiner Kajüte blieb ich stehen. Obwohl es noch nicht Mittag war, schlief der Kapitän, den Kopf auf die Unterarme gebettet, auf einem offenen Buch. Die Feder war ihm aus der Hand gefallen, und das geschickt in einer Halterung verankerte Tintenglas schwankte sachte im Rhythmus der Schiffsbewegungen. Leonard lag auf der Seite, so daß ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Trotz seiner Bartstoppeln sah er lächerlich jung aus.
Ich beschloß, es später noch einmal zu versuchen und machte kehrt, streifte dabei jedoch eine Kiste, auf der inmitten von Papieren, Navigationsinstrumenten und halb aufgerollten Karten ein Stapel Bücher lag. Der oberste Band fiel mit einem dumpfen Schlag zu Boden.
In dem allgemeinen Lärm, der auf einem Segelschiff stets herrscht - das Ächzen der Planken, das Knattern der Segel, das Geheul in der Takelage - war der Aufprall kaum zu hören. Dennoch erwachte der Kapitän, blinzelte verschlafen und sah mich verblüfft an.
»Mrs. Fra - Mrs. Malcolm!« sagte er, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf. »Was… das heißt… brauchen Sie etwas?«
»Ich wollte Sie nicht aufwecken«, sagte ich. »Aber ich brauche noch mehr Alkohol - wenn nötig, kann ich auch den Rum verwenden. Und Sie müssen wirklich mit den Matrosen reden und Sie irgendwie davon abbringen, den destillierten Alkohol zu trinken. Heute hat sich wieder einer damit vergiftet. Und wenn es eine Möglichkeit gäbe, das Schiffslazarett besser mit Frischluft zu versorgen…« Ich hielt inne, da ich ihn offensichtlich überforderte.
Er blinzelte, kratzte sich am Kopf und versuchte, allmählich seine Gedanken zu ordnen. Die Knöpfe an seinem Ärmel hatten runde rote Abdrücke auf seiner Wange hinterlassen, und seine Haare waren an der Seite flachgedrückt.
»Ich verstehe«, sagte er benommen. Als er langsam erwachte,
wurde sein Gesichtsausdruck klarer. »Ja. Natürlich. Ich werde mich um die Belüftung kümmern, aber was den Alkohol betrifft, muß ich Sie bitten, den Proviantmeister zu Rate zu ziehen, weil ich selbst nicht weiß, über welche Vorräte wir noch verfügen.« Er holte Luft, um zu rufen, doch da fiel ihm ein, daß sein Steward nicht mehr in Hörweite war - auch er hatte ins Schiffslazarett umziehen müssen. In diesem Augenblick ertönte das gedämpfte Bimmeln der Schiffsglocke.
»Bitte entschuldigen Sie mich, Mrs. Malcolm«, sagte er höflich. »Es ist beinahe Mittag. Ich muß gehen und unsere Position bestimmen. Wenn Sie noch einen Augenblick hierbleiben möchten, werde ich den Proviantmeister zu Ihnen schicken.«
»Vielen Dank.« Ich setzte mich auf den Stuhl, von dem er sich soeben erhoben hatte. Als er sich zum Gehen wandte, versuchte er den viel zu großen Uniformrock zurechtzurücken.
»Kapitän Leonard?« fragte ich, einem jähen Impuls folgend. Er wandte sich zu mir um.
»Wenn Sie die Frage erlauben - wie alt sind Sie?«
Er blinzelte, und sein Mund wurde schmal, aber er blieb mir die Antwort nicht schuldig.
»Ich bin neunzehn, Madam. Ihr Diener, Madam.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Ich hörte noch, wie er auf dem Niedergang mit vor Müdigkeit heiserer Stimme Befehle erteilte.
Neunzehn! Wie gelähmt vor Schreck saß ich da. Für so jung hatte ich ihn nun auch wieder nicht gehalten. Sein Gesicht war vom Wetter gegerbt und von Schlaflosigkeit gezeichnet, so daß er mindestens wie Mitte Zwanzig aussah. Mein Gott! dachte ich entsetzt. Er ist ja noch ein Kind!
Neunzehn. Genau in Briannas Alter. Aus heiterem Himmel war ihm das Kommando eines Schiffes
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