Ferne Ufer
das? Und wenn Sir Percival bereit gewesen war, für eine kleine Gegenleistung über Jamies Gesetzesüberschreitungen hinwegzusehen, dann - na, vielleicht war von diesen Bestechungsgeldern
nichts in Tompkins’ Tasche gewandert. Aber in diesem Fall… und was war mit dem Hinterhalt bei Arbroath? War ein Verräter unter den Schmugglern? Und wenn ja…
Meine Gedanken wurden immer wirrer und drehten sich nur noch im Kreis. Das bleiche gepuderte Gesicht von Sir Percival wurde zur blutroten Fratze des erhängten Zollbeamten an der Straße nach Arbroath, und dann flammten vor meinem geistigen Auge das rotgoldene Feuer einer explodierenden Laterne auf. Ich drehte mich auf dem Bauch, preßte das Kopfkissen an meine Brust und schlief mit dem Gedanken ein, daß ich Tompkins finden mußte.
Schließlich löste sich das Problem von selbst, indem Tompkins mich fand. An den folgenden zwei Tagen war die Lage im Schiffslazarett so angespannt, daß ich praktisch unabkömmlich war. Am dritten Tag beruhigte sich die Situation ein wenig, so daß ich mich in die Arztkajüte zurückziehen konnte, um mich zu waschen und ein wenig auszuruhen, bevor der Trommelschlag zum Mittagessen rief.
Mit einem feuchten Tuch über meinen müden Augen lag ich auf der Koje, als ich auf dem Gang vor der Tür Schritte und Stimmen hörte. Ein zögerndes Klopfen folgte, und ein Unbekannter sagte: »Mrs. Malcolm? Es hat einen Unfall gegeben, bitte, Madam.«
Ich öffnete die Tür und erblickte zwei Seeleute, die einen dritten stützten, der wie ein Storch auf einem Bein stand, das Gesicht bleich vor Schreck und Schmerz.
Mit einem Blick erfaßte ich, wen ich vor mir hatte. Das Gesicht des Mannes zeigte auf einer Seite die Narben einer bösen Verbrennung, und das Lid entblößte die milchige Pupille eines blinden Auges. Vor mir stand der einäugige Seemann, den Ian glaubte, getötet zu haben. Das schüttere braune Haar war zu einem dünnen Zopf zusammengefaßt und enthüllte große durchscheinende Ohren.
»Mr. Tompkins«, sagte ich mit fester Stimme, und sein verbliebenes Auge weitete sich vor Erstaunen. »Laden Sie ihn bitte dort ab.«
Die Männer setzten Tompkins auf einen Hocker an der Wand und kehrten zu ihrer Arbeit zurück. Es herrschte ein solcher Mangel
an Matrosen auf dem Schiff, daß niemand mehr Zeit für Zerstreuungen irgendwelcher Art hatte. Mit pochendem Herzen kniete ich nieder, um das verwundete Bein zu untersuchen.
Er wußte sehr wohl, wer ich war. Ich hatte es an seinem Gesicht gesehen, als ich die Tür öffnete. Das verletzte Bein bereitete ihm offensichtlich starke Schmerzen. Die Wunde blutete, war aber, wenn sie ordentlich versorgt wurde, nicht ernst. Die Blutung war schon zum Stillstand gekommen, als ich den provisorischen Verband löste.
»Wie haben Sie denn das angestellt, Mr. Tompkins?« Ich stand auf und griff nach einer Flasche Alkohol. Aus seinem einen Auge sah er mich mißtrauisch an.
»Ein Splitter, Madam«, entgegnete er mit seiner mir wohlbekannten näselnden Stimme. »Eine Spiere ist durchgebrochen, als ich draufstand.« Verstohlen fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
»Verstehe.« Ich drehte mich um, öffnete meinen leeren Medizinkasten und tat so, als suchte ich das richtige Mittel. Unterdessen beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln und überlegte, wie ich mit ihm fertig werden konnte. Er war auf der Hut. Ihm mit List irgend etwas zu entlocken oder sein Vertrauen zu gewinnen kam offensichtlich nicht in Frage.
Auf der Suche nach Inspiration ließ ich meinen Blick über den Tisch schweifen - und wurde fündig. In Gedanken entschuldigte ich mich bei Äskulap und griff nach der Knochensäge meines verblichenen Vorgängers - ein tückisches Ding aus rostigem Stahl und knapp einen halben Meter lang. Ich betrachtete es nachdenklich, drehte mich dann um und legte die gezähnte Schneide direkt oberhalb des Knies auf das verletzte Bein. Ich blickte in das verstörte Auge des Seemanns und lächelte freundlich.
»Mr. Tompkins«, sagte ich, »lassen Sie uns offen reden.«
Eine Stunde später kehrte Vollmatrose Tompkins, zusammengeflickt und verbunden und körperlich unversehrt, wenn auch an allen Gliedern zitternd, in seine Hängematte zurück. Auch ich fühlte mich nach der Begegnung ein wenig zittrig.
Tompkins war, wie er der Preßpatrouille in Edinburgh versichert hatte, ein Agent von Sir Percival Turner. Als solcher trieb er sich
auf den Piers und in den Lagerhäusern aller Handelshäfen am Firth of Forth
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