Ferne Ufer
leider hatte Herkules’ Erscheinen mein Vorhaben im Keim erstickt. Das Zweitbeste wäre, wenn wir das Anwesen nach irgendeiner Spur von dem Jungen absuchen könnten. Hundertzwanzig Hektar waren ein stattlicher Besitz, doch wenn Ian sich tatsächlich auf der Plantage befand, dann bestimmt in der Nähe der Gebäude.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich merkte, daß Geillis mir eine Frage gestellt hatte. »Wie bitte?«
»Ich sagte«, wiederholte sie geduldig, »daß du damals in Schottland in dem Ruf standest, andere heilen zu können. Inzwischen verfügst du sicherlich über ein noch viel größeres Wissen, oder?«
»Das ist schon möglich.« Ich sah sie mißtrauisch an. Brauchte sie meine Hilfe für sich selbst?
»Es geht nicht um mich«, meinte sie, als sie meinen Blick bemerkte. »Zumindest nicht im Augenblick. Zwei meiner Sklaven sind nicht gesund. Vielleicht könntest du mal nach ihnen sehen.«
Ich blickte zu Jamie hinüber, der unmerklich nickte. Das war eine gute Gelegenheit, in die Sklavenunterkünfte zu kommen und nach Ian zu suchen.
Er erhob sich unvermittelt und meinte: »Bei unserer Ankunft habe ich gesehen, daß Sie Schwierigkeiten mit der Zuckermühle haben. Vielleicht kann ich mich dort nützlich machen, während Sie und meine Frau sich um die kranken Sklaven kümmern.« Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm er seinen Rock und hängte ihn an einen Haken neben der Tür. Während er sich die Hemdsärmel hochkrempelte, trat er hinaus ins gleißende Sonnenlicht auf der Veranda.
»Er gehört offensichtlich zu der Sorte Mann, die sich gern nützlich macht«, meinte Geillis, die ihm amüsiert nachsah. »Mein Mann Barnabas war auch so einer - keine Maschine war vor ihm sicher… allerdings auch kein Sklavenmädchen«, fügte sie hinzu. »Komm, die Kranken sind hinter der Küche.«
Die Küche befand sich in einem kleinen Nebengebäude, das mit dem Herrenhaus durch eine mit Jasmin überwucherte Pergola verbunden war. Als wir hinübergingen, hatte ich das Gefühl, durch eine Parfümwolke zu schreiten, und das Summen der Bienen war so laut, daß man es förmlich auf der Haut spürte - wie das tiefe Brummen einer Dudelsackpfeife.
»Bist du schon mal gestochen worden?« Geillis schlug beiläufig nach einem der pelzigen Insekten, das im Sturzflug auf sie zukam.
»Hin und wieder.«
»Ich auch«, meinte sie. »X-mal schon, und nie war etwas Schlimmeres zu sehen als eine rote Schwellung. Doch letzten Frühling hat eins dieser verfluchten Biester eine Küchensklavin gestochen. Das Mädchen schwoll an wie eine Kröte und starb mir direkt vor der Nase weg!« Geillis sah mich aus großen, spöttischen Augen an. »Was Besseres hätte ich mir gar nicht wünschen können. Die Sklaven dachten, ich hätte das Mädchen verhext, einen bösen Zauber über sie verhängt, weil sie einen Kuchen hatte verbrennen lassen. Seit der Zeit ist nicht einmal mehr was angebrannt.« Kopfschüttelnd verjagte sie eine weitere Biene.
Obwohl mich ihre Kaltherzigkeit entsetzte, beruhigte mich diese Geschichte ein wenig. Also entbehrte womöglich auch der Klatsch, den ich auf dem Empfang gehört hatte, jeder Grundlage.
Ich blieb stehen und sah durch die zarten Jasminblätter hindurch auf die Zuckerrohrfelder unter mir. Jamie hatte sich darangemacht, die Zuckermühle zu reparieren. Er begutachtete die riesigen
Mühlarme, während ein Mann - wahrscheinlich der Aufseher - lebhaft gestikulierte und erklärte. Wenn ich in den Unterkünften keine Spur von Ian finden sollte, konnte Jamie vielleicht etwas von dem Aufseher in Erfahrung bringen. Obwohl es Geillis abstritt, sagte mir mein Instinkt, daß der Junge irgendwo auf diesem Anwesen war.
In der Küche konnte ich nichts Aufschlußreiches entdecken; drei oder vier Frauen, die Brotteig kneteten oder Erbsen pulten, sahen neugierig auf, als wir eintraten. Ich erhaschte den Blick einer jungen Frau, nickte ihr zu und lächelte sie an. Vielleicht würde sich später eine Gelegenheit ergeben, mit ihr zu plaudern. Nachdem sie mich mit großen Augen angesehen hatte, senkte sie rasch wieder den Blick auf die Schüssel mit Erbsen auf ihrem Schoß. Als wir den langgestreckten Raum durchquerten, erkannte ich an ihrem leicht gewölbten Leib, daß sie in den ersten Monaten schwanger war.
Der erste kranke Sklave war in einer kleinen Speisekammer gleich neben der Küche untergebracht. Der Patient, ein junger Mann um die Zwanzig, lag auf einer Pritsche direkt unter Regalen, auf denen sich in Gaze
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