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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Patient lag in einer Hütte in der Nähe der Küche - tot. Ich hockte mich neben den Leichnam - ein Mann mittleren Alters mit grauem Haar - und fühlte sowohl Mitleid als auch Empörung.
    Die Todesursache war eindeutig ein eingeklemmter Bruch. Seine verkrümmten Gliedmaßen bezeugten auf traurige Weise, welchen Tod dieser Mann gestorben war. Sein Körper war noch warm.
    »Warum hast du bloß so lange gewartet?« Ich stand auf und funkelte Geillis an. »Warum, um Himmels willen, hast du mit mir geplaudert und Tee getrunken, während sich das hier abspielte? Er ist höchstens eine Stunde tot, aber er hat bestimmt tagelang gelitten! Warum hast du mich nicht gleich hierhergebracht?«
    »Heute morgen war er schon fast hinüber«, erwiderte sie. Mein Zorn brachte sie nicht im mindesten aus der Ruhe. »Ich habe so was schon häufiger gesehen. Außerdem dachte ich nicht, daß du viel ausrichten könntest. Wozu also die Eile?«

    Ich sparte mir jede weitere Anschuldigung. Sie hatte recht: Ich hätte zwar, wenn ich eher gekommen wäre, operieren können, aber er hätte keine großen Aussichten gehabt, den Eingriff zu überleben. Einen eingeklemmten Bruch hätte ich vielleicht auch unter schwierigen Bedingungen hingekriegt. Die eigentliche Gefahr bestand in einer möglichen Infektion.
    Doch mußte man ihn deshalb in dieser schäbigen Hütte einfach seinem Schicksal überlassen, noch dazu allein? Nun, vielleicht hätte er die Anwesenheit einer Weißen nicht als Trost empfunden, aber trotzdem… Ich hatte das unbestimmte Gefühl, versagt zu haben, eine Empfindung, die mich im Angesicht des Todes immer überkam. Langsam wischte ich mir die Hände an einem mit Weinbrand getränkten Stück Stoff ab und versuchte, meine Gefühle in den Griff zu bekommen.
    Einen hatte ich retten können, den anderen verloren - und von Ian noch immer keine Spur.
    »Wo ich schon mal hier bin, könnte ich mir die restlichen Sklaven eigentlich auch gleich ansehen«, schlug ich vor. »Zur Vorbeugung.«
    »Ach, denen geht’s gut.« Geillis winkte nachlässig ab. »Aber wenn du dir die Mühe machen willst, bitte sehr. Allerdings erst später; ich erwarte am Nachmittag einen Besucher und würde vorher gern noch mit dir reden. Laß uns zum Haus zurückkehren - ich sorge dafür, daß sich jemand um das da kümmert.« Durch ein kurzes Nicken deutete sie an, daß mit »das da« der verkrümmte Leichnam des Sklaven gemeint war. Sie hakte mich unter, schob mich aus der Hütte und steuerte mich mit sanftem Druck zur Küche.
    Dort angekommen, machte ich mich frei und trat auf die schwangere Sklavin zu, die gerade vor der Feuerstelle kniete und den Boden schrubbte.
    »Geh schon mal vor. Ich möchte mir nur mal eben dieses Mädchen ansehen. Sie wirkt nicht gerade gesund - du willst doch sicher nicht riskieren, daß sie eine Fehlgeburt hat.«
    Geillis warf mir zwar einen seltsamen Blick zu, zuckte dann aber die Achseln.
    »Sie hat schon zweimal ohne jede Schwierigkeit geworfen, aber du bist hier die Heilerin. Wenn das deine Vorstellung von Vergnügen
ist, aye, dann will ich dich nicht aufhalten. Aber hoffentlich dauert’s nicht zu lange, denn dieser Pfaffe hat sich für vier Uhr angekündigt.«
    Also gab ich mir den Anschein, als würde ich die verängstigte Frau untersuchen, bis Geillis’ geraffte Röcke in der Pergola verschwanden.
    »Passen Sie auf«, sagte ich zu der jungen Frau. »Ich suche einen weißen Jungen namens Ian. Ich bin seine Tante. Wissen Sie vielleicht, wo er ist?«
    Das Mädchen - es konnte kaum älter als achtzehn, neunzehn sein - blinzelte mich verdutzt an. Dann warf sie einer der älteren Frauen, die ihre Arbeit niedergelegt und sich zu uns gesellt hatte, um zu sehen, was hier vor sich ging, einen ängstlichen Blick zu.
    »Nein, Madam«, sagte die ältere Frau kopfschüttelnd. »Hier sind keine weißen Jungen. Keine.«
    »Nein, Madam«, wiederholte das Mädchen gehorsam. »Wir wissen nichts von Ihrem Jungen.« Aber das hatte sie nicht gleich auf Anhieb gesagt, und sie wagte nicht, mir in die Augen zu sehen.
    Inzwischen waren auch die beiden anderen Küchenmädchen zu uns gekommen, um der älteren Frau moralischen Beistand zu leisten. So war ich von einer Wand undurchdringlichen Schweigens umgeben, die sich durch nichts erschüttern ließ. Gleichzeitig spürte ich die unausgesprochenen Botschaften, die sie sich gegenseitig schickten - Warnung, Sorge, Mahnung zur Verschwiegenheit. Natürlich konnte das allein schon durch das Eindringen einer

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