Ferne Ufer
sog er mit einem zischenden Geräusch die Luft in die Lungen.
»Also war es kein Engländer«, stellte ich fest. »Sondern nur ein englischer Name - Willoughby.«
»Nicht Willoughby«, entgegnete der Chinese böse. »Ich heiße Yi Tien Tschu!«
»Warum«, schleuderte ich ihm entgegen. »Sehen Sie mich an, verdammt noch mal! Warum?«
Endlich drehte er den Kopf. Seine dunklen runden Augäpfel, die mich immer an Murmeln erinnerten, hatten jeden Glanz verloren.
»In China…«, stotterte er. »Es gibt da Geschichten. Weissagungen. Eines Tages kommen die Geister, heißt es. Und jeder hat Angst vor Geistern.« Er nickte ein-, zweimal und starrte dann wieder auf die Gestalt am Boden.
»Ich gehe fort aus China, um mein Leben zu retten. Lange Zeit beim Aufwachen, da sehe ich Geister. Um mich herum, alles nur Geister«, sagte er leise.
»Ein großer Geist kommt - ein schreckliches, bleiches Gesicht, mit Haaren wie Flammen. Ich denke, er will meine Seele fressen.« Jetzt hob er sein Gesicht zu mir auf. Es wirkte in sich versunken und ungerührt, wie ein stehendes Gewässer an einem windstillen Tag.
»Ich habe recht«, sagte er schlicht und nickte erneut.
»Tsei-mi, er frißt meine Seele. Ich bin nicht mehr Yi Tien Tschu.«
»Er hat Ihnen das Leben gerettet«, wandte ich ein. Der Chinese nickte wieder.
»Ich weiß. Besser, ich sterbe. Besser sterben, als Willoughby werden. Willoughby! Pah!« Er wandte den Kopf ab und spuckte aus. Plötzlich war sein Gesicht wutverzerrt.
»Tsei-mi, er spricht meine Worte! Er frißt meine Seele!« Der Wutanfall schien so schnell vorüber, wie er gekommen war. Obwohl es nicht besonders warm im Rauch war, schwitzte er. Zitternd fuhr seine Hand zum Gesicht, um sich den Schweiß abzuwischen.
»Da ist ein Mann, den ich in der Taverne treffe. Fragt nach Mac-Doo. Ich bin betrunken«, erklärte er leidenschaftslos. »Ich will eine Frau, aber keine Frau will mit mir gehen - sie lachen, sagen gelber Wurm, zeigen auf…« Er wies auf den Schritt seiner Hose. Dann schüttelte er den Kopf, so daß sein Zopf über die Seidenbluse rutschte.
»Was gwao-fei macht, ist mir egal. Ich bin betrunken«, sagte er noch einmal. »Der Geistmann will Mac-Doo. Fragt mich, wo er ist. Ich sage, ja, ich weiß, wo Mac-Doo ist.« Er zuckte die Achseln. »Nicht wichtig, was ich sage.«
Er starrte auf den Pfarrer. Seine schmale Brust hob und senkte sich, dann hob sie sich noch einmal… und dann war sie starr. Lastende
Stille breitete sich im Raum aus, als das zischende Luftholen verstummte.
»Damit zahle ich meine Schuld«, sagte Yi Tien Tschu. Er wies auf den steifen Körper. »Ich bin entehrt. Ich bin ein Fremder. Aber ich bezahle. Ihr Leben gegen meins, erste Frau. Das erzählen Sie Tsei-mi.«
Er nickte wieder und wandte sich zur Tür. Von der Veranda hörte man das Rascheln von Federn. Auf der Schwelle wandte sich der Chinese noch einmal um.
»Wenn ich am Hafen aufwache, denke ich, die Geister sind da und wollen mich holen«, sagte Yi Tien Tschu leise. Seine Augen waren dunkel und ausdruckslos, ohne jede Tiefe. »Aber das stimmt nicht. Ich bin es, ich bin der Geist.«
Ein schwacher Luftzug drang aus der offenen Flügeltür, und er war fort. Flinke, von Filz gedämpfte Schritte trappelten über die Veranda, Gefieder raschelte, und ein leises, klagendes Guaah mischte sich unter die nächtlichen Geräusche der Plantage und verhallte.
Ich schaffte es bis zum Sofa, ehe meine Knie nachgaben. Am Ende meiner Kräfte beugte ich mich nach vorn, legte den Kopf auf die Knie und betete darum, daß ich nicht in Ohnmacht fiel. Das Blut pochte in meinen Schläfen. Plötzlich meinte ich, wieder diese zischenden Atemzüge zu hören, und entsetzt riß ich den Kopf hoch. Aber Reverend Campbell regte sich nicht mehr.
Im gleichen Raum mit ihm konnte ich nicht bleiben. Ich stand auf und schlug einen möglichst weiten Bogen um den Leichnam. Aber noch bevor ich die Tür zur Veranda erreicht hatte, änderte ich meine Meinung. Die Bilder der vergangenen Ereignisse schwirrten durch meinen Kopf wie die bunten Glassplitter in einem Kaleidoskop.
Doch mich hinsetzen und überlegen durfte ich jetzt nicht. Ich dachte an mein Gespräch mit dem Reverend, ehe Mr. Willoughby aufgetaucht war. Wenn es irgendeinen Hinweis gab, wohin Geillis Abernathy verschwunden war, dann oben. Ich nahm eine Kerze vom Tisch und tappte durch das dunkle Haus zur Treppe. Dabei zwang ich mich, nicht zurückzuschauen. Mir war furchtbar kalt.
Im Arbeitsraum brannte
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