Ferne Ufer
aber ich konnte ihm nicht helfen.
»Ja«, sagte er, während er schwer schluckte. »Ich verstehe.«
Jamie streckte ihm die Hand entgegen. Grey zögerte kurz, aber dann nahm er sie.
»Viel Glück, Jamie«, sagte er mit heiserer Stimme. »Gott sei mit dir.«
Fergus war nicht so leicht zu überzeugen. Hartnäckig bestand er darauf, mit uns zu reisen, brachte ein Argument nach dem anderen vor und wurde richtig wütend, als er hörte, daß wir die schottischen Schmuggler zu unseren Begleitern erkoren hatten.
»Diese Leute wollen Sie mitnehmen, und ich soll hierbleiben?« Deutlich stand ihm die Empörung ins Gesicht geschrieben.
»Genau«, entgegnete Jamie fest. »Denn die Schmuggler sind Witwer oder Junggesellen. Du aber mußt an deine Frau denken.« Er wies auf Marsali, die die Auseinandersetzung mit angstverzerrtem Gesicht verfolgte. »Als ich dachte, sie sei zu jung zum Heiraten, hatte ich mich getäuscht. Aber eins weiß ich gewiß: Sie ist zu jung, um Witwe zu werden.« Jamie wandte sich ab, und die Sache war erledigt.
In tiefdunkler Nacht setzten wir auf Greys zehn Meter langer Pinasse die Segel. Zurück blieben zwei Schauermänner, gefesselt
und geknebelt und in einem Bootshaus versteckt. Zwar war unser Einmaster größer als das Fischerboot, mit dem wir den Yallah hinaufgefahren waren, doch ob sie den Namen Schiff verdiente, darüber konnte man streiten.
Aber immerhin schien sie seetüchtig, und schon bald hatten wir den Hafen von Kingston hinter uns gelassen. Eine frische Abendbrise trieb uns in Richtung Hispaniola.
Die Schmuggler hatten alle Arbeiten unter sich aufgeteilt, so daß sich Jamie, Stern und ich auf einer der langen Bänke vor der Reling ausruhen konnten. Wir schwatzten über dieses und jenes, verfielen jedoch nach kurzer Zeit in Schweigen und hingen unseren Gedanken nach.
Jamie, der wiederholt gähnte, gab schließlich meinem Drängen nach, streckte sich auf der Bank aus und bettete den Kopf in meinen Schoß. Ich hingegen war zu angespannt, um an Schlafen auch nur denken zu können.
Stern blieb gleichfalls wach. Er hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt und sah in den Himmel.
»Die Luft ist feucht heute abend«, sagte er, während er mit dem Kinn auf die silberne Mondsichel wies. »Sehen Sie den Dunst, der den Mond umgibt? Vielleicht kriegen wir noch vor Morgengrauen Regen. Das wäre recht ungewöhnlich für diese Jahreszeit.«
Das Wetter schien mir als Thema unverfänglich genug, um meine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen. Ich strich Jamie über die dicken, weichen Haare.
»Wirklich?« fragte ich. »Manchmal scheint es mir, Sie und Jamie könnten vom Himmel ablesen, wie das Wetter wird. Ich kenne nur den Spruch: ›Morgenrot, schlecht Wetter droht‹.«
Stern lachte. »Demnach müßten wir bis zum Morgen warten, um zu wissen, was der Tag uns bringt. Aber erstaunlicherweise sind diese Bauernregeln oft ausgesprochen präzise. Natürlich liegen dem Ganzen wissenschaftliche Prinzipien wie Lichtbrechung und Luftfeuchtigkeit zugrunde.«
Ich hob das Kinn, so daß mir die Brise das schweißnasse Haar im Nacken aufwirbelte.
»Und was ist mit den unerklärlichen Phänomenen? Dem Übernatürlichen?« fragte ich. »Mit den Dingen, auf die sich die wissenschaftlichen Gesetze nicht anwenden lassen?« Ich bin Wissenschaftler
, hörte ich ihn in Gedanken wieder sagen, wobei sein leichter Akzent die Sachlichkeit nur noch zu verstärken schien. Ich glaube nicht an Geister.
»Welche Phänomene zum Beispiel?«
»Tja…« Ich überlegte fieberhaft, stützte mich dann aber auf die Liste der Dinge, die Geillis selbst angeführt hatte. »Menschen mit blutenden Stigmata, Astralwanderung, Visionen, übernatürliche Manifestationen - also alles, was mit dem Verstand nicht erklärt werden kann.«
Stern grunzte und machte es sich auf der Bank neben mir bequemer.
»Meiner Meinung nach hat die Wissenschaft lediglich die Aufgabe zu beobachten, nach der Ursache zu suchen, wenn sie zu finden ist. Wir dürfen nie vergessen, daß es in der Welt viele Dinge gibt, die wir nicht erklären können - aber nicht, weil es keine Erklärung gibt, sondern weil wir zu wenig wissen, um sie zu finden. Es steht der Wissenschaft nicht an, auf einer Erklärung zu beharren - sie soll beobachten und hoffen, daß sich die Erklärung einstellt.«
»Die Wissenschaft kann das vielleicht leisten«, wandte ich ein, »aber wir Menschen sind dazu nicht fähig. Es liegt in unserer Natur, daß wir nach einer Erklärung
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