Ferne Ufer
seetüchtig.« Grey wühlte in der Schublade seines Schreibtischs. »Ich schreibe eine Anweisung für die Hafenarbeiter, daß ihr dazu berechtigt seid.«
»Aye, das Schiff kommt uns gerade recht - Jareds Artemis möchte ich lieber nicht aufs Spiel setzen -, aber ich halte es für besser, wenn wir sie stehlen.« Jamie hatte die Stirn gerunzelt. »Ich möchte nicht, daß du in diese Sache hineingezogen wirst; schließlich hast du schon Sorgen genug.«
Grey lächelte unglücklich. »Sorgen? Ja, so kann man es nennen - vier Plantagensitze abgebrannt und mehr als zweihundert Sklaven geflüchtet, Gott weiß, wohin. Doch ich bezweifele, daß unter diesen Umständen noch irgend jemand auf meinen gesellschaftlichen Umgang achtet. Die ganze Insel hat Angst vor den Maroons und dem Chinesen. Da fällt ein einfacher Schmuggler nicht weiter ins Gewicht.«
»Wie tröstlich für mich«, entgegnete Jamie trocken. »Trotzdem, wir stehlen das Schiff. Wenn man uns festnimmt, hast du von mir weder gehört noch mich je zu Gesicht bekommen, aye?«
Grey starrte ihn mit einer Mischung aus Belustigung, Furcht und Wut an.
»Ist das dein Ernst?«, fragte er schließlich. »Soll ich zusehen, wie du gefangen und dann aufgeknüpft wirst, und dabei schweigen - aus Angst um meinen guten Ruf? Um Himmels willen, Jamie, für wen hältst du mich?«
Jamies Lippen zuckten.
»Für meinen Freund, John«, sagte er. »Und wenn ich deine Freundschaft - und dein verdammtes Boot - annehme, darf ich dir
wohl auch einen Dienst erweisen. Also, kein Wort darüber, in Ordnung?«
»Gut«, erklärte der Gouverneur, nachdem er geschlagen die Schultern hatte sinken lassen. »Aber dann tu mir bitte auch den Gefallen und laß dich nicht erwischen.«
Um sein Lächeln zu verbergen, strich sich Jamie mit den Fingern über die Lippen.
»Ich versuche mein Bestes, John.«
Müde ließ sich der Gouverneur auf seinen Stuhl sinken. Unter seinen Augen zeichneten sich graue Ringe ab, und sein sonst so makelloses Leinenhemd war zerknittert. Wahrscheinlich hatte er sich seit dem letzten Tag nicht mehr umgezogen.
»Gut. Wohin du willst, weiß ich nicht, und ich sollte es wohl besser auch nicht erfahren. Aber wenn möglich, halte dich auf der Route nördlich von Antigua. Ich habe heute morgen ein Schiff dorthin geschickt und um so viele Männer gebeten, wie sie erübrigen können. Spätestens übermorgen müßten sie von dort aufbrechen, um den Hafen und die Stadt vor marodierenden Maroons zu schützen, sollte es zu einer offenen Rebellion kommen.«
Als ich Jamies Blick auffing, zog ich fragend die Augenbraue hoch. Doch er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. Von dem Aufstand am Yallah und den entkommenen Sklaven hatten wir dem Gouverneur erzählt, denn inzwischen mußte er auch von anderen davon gehört haben. Doch was wir später am Abend in unserem Versteck in der kleinen Bucht gesehen hatten, behielten wir lieber für uns.
Der Fluß hatte dunkel wie Onyx dagelegen; nur ein blasser Schimmer schien von der breiten Wasserfläche aufzusteigen. Da wir sie kommen hörten, hatten wir ausreichend Zeit gehabt, uns zu verstecken. Trommeln wurden geschlagen, und ein wüstes Stimmengewirr hallte durch das Tal, als die Bruja , getrieben von der Strömung, an uns vorbeizog. Die Leichen der Piraten lagen zweifellos flußaufwärts zwischen den Jasminbüschen und Zedern.
Die Sklaven vom Yallah waren nicht in die Berge Jamaikas gezogen, sondern aufs offene Meer, wahrscheinlich um sich zu Bouassas Anhängern auf Hispaniola zu gesellen. Die Bewohner Kingstons hatten also von den geflüchteten Sklaven nichts zu befürchten - doch für uns war es günstiger, wenn sich die Königliche
Marine auf Jamaika konzentrierte statt auf Hispaniola - unser Ziel.
Jamie erhob sich zum Gehen, aber Grey hielt ihn zurück.
»Warte! Brauchst du keine sichere Unterkunft für deine… für Mrs. Fraser?« Er hielt den Blick starr auf Jamie gerichtet. »Mir wäre es eine Ehre, wenn du sie meinem Schutz anvertrauen würdest. Sie könnte bis zu deiner Rückkehr hier im Gouverneurspalast bleiben. Niemand würde ihr ein Haar krümmen - oder überhaupt erfahren, daß sie hier ist.«
Jamie zögerte, sah jedoch keine Möglichkeit, seine Ablehnung sanfter zu formulieren.
»Sie muß mit mir kommen, John«, sagte er. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Grey musterte mich mit flackerndem Blick und wandte sich dann gleich wieder ab. Doch der Ausdruck von Eifersucht war mir nicht entgangen. Er tat mir leid,
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