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Ferne Ufer

Titel: Ferne Ufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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weiß, wozu man bestimmt ist, aber man verschwendet nicht soviel Zeit mit Grübeln und Zweifeln. Mit der Ehrlichkeit ist es ähnlich. Doch ich glaube, wenn man sich selbst gegenüber ehrlich ist und weiß, was man will, bekommt man später wohl kaum das Gefühl, sein Leben vergeudet oder das Falsche getan zu haben.«
    Sie legte die Bögen zur Seite und nahm einen Stapel Hefter mit dem einprägsamen Emblem des Britischen Museums in die Hand.
    »Jamie war so«, sagte sie verträumt, fast schon zu sich selbst. »Er hat sich nie von einer Aufgabe, die er als die seine ansah, abgewandt, ganz gleich, wie gefährlich sie war. Und ich glaube nicht, daß er sein Leben als vergeudet ansah - was immer ihm auch zugestoßen ist.«
    Sie verfiel in Schweigen, versenkte sich in die krakeligen Buchstaben eines längst verstorbenen Schreibers, suchte nach einem
Eintrag, der ihr verriet, was Jamie Fraser getan hatte, was er gewesen war und ob er sein Leben in einer Gefängniszelle vergeudet hatte oder in einem finsteren Verlies gestorben war.
    Mit vollem, melodischem Klang schlug die kleine Uhr auf dem Schreibtisch Mitternacht. Dann Viertel nach und schließlich halb eins, eine kurze Unterbrechung im monotonen Rascheln des Papiers. Irgendwann ließ Roger die Seiten sinken und gähnte ausgiebig, ohne die Hand vor den Mund zu halten.
    »Ich bin so müde, daß ich schon doppelt sehe«, sagte er. »Wollen wir nicht morgen früh weitermachen?«
    Claire antwortete nicht. Sie starrte in die glimmenden Stäbe des elektrischen Heizofens und schien weit, weit fort. Erst als Roger seine Frage wiederholte, kehrte sie langsam in die Wirklichkeit zurück.
    »Nein«, erwiderte sie. »Gehen Sie nur. Ich - ich mache noch ein bißchen weiter.«
     
    Als ich ihn schließlich vor mir hatte, hätte ich ihn fast überblättert. Ich las die Namen nicht einzeln durch, sondern überflog die Seiten nur nach dem Anfangsbuchstaben »J«. »John, Joseph, Jaques, James.« Es gab James Edward, James Alan, James Walter, ad infinitum. Und dann stand es da, eine Zeile in einer feinen, sauberen Handschrift: »Jms. MacKenzie Fraser von Broch Tuarach.«
    Behutsam legte ich den Bogen auf den Tisch und schloß die Augen. Dann sah ich wieder hin. Es stand immer noch da.
    »Jamie!« sagte ich laut. Meine Brust drohte zu zerspringen. »Jamie!« sagte ich wieder, leiser diesmal.
    Es war fast drei Uhr morgens. Die anderen schliefen, doch das Haus ächzte wie alle alten Gemäuer, so daß es mir vorkam, als leistete es mir Gesellschaft. Seltsamerweise hatte ich nicht das Bedürfnis, aufzuspringen und Brianna und Roger zu wecken. Ich wollte es für mich behalten, als wäre ich hier, im warmen Schein der Lampen, mit Jamie allein.
    Meine Finger fuhren die Spur der Tinte nach. Wer immer diese Buchstaben geschrieben hatte, hatte Jamie gesehen - vielleicht hatte Jamie dabei sogar vor ihm gestanden. Oben auf der Seite war das Datum vermerkt - 16. Mai 1753. Jetzt hatten wir ebenfalls Mai. Ich stellte mir vor, wie ein verirrter Sonnenstrahl in der klaren,
kühlen Frühlingsluft in seinem Haar goldene Funken aufleuchten ließ.
    Wie Jamie sein Haar damals wohl getragen hatte - kurz oder lang? Am liebsten trug er es geflochten oder zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ich sah die unbewußte Geste vor mir, mit der er sein Haar im Nacken hochgehoben hatte, um die Haut zu kühlen.
    Seinen Kilt hatte er wohl nicht angehabt - nach Culloden war das Tragen von Tartans verboten. Kniehosen also und ein Leinenhemd. Ich hatte solche Hemden für ihn genäht, spürte noch den weichen Stoff in meiner Hand, sah die stattliche Länge von drei Metern vor mir, die man brauchte, damit sie lang herunterreichten und weite Ärmel hatten.
    Jamie war schon früher im Gefängnis gewesen. Wie sein Gesicht wohl ausgesehen hatte, als er vor dem englischen Wärter stand und nur zu gut wußte, was ihn erwartete? Versteinert wahrscheinlich, mit kalten, dunklen Augen - unergründlich und unheilvoll wie die tiefen Wasser des Loch Ness.
    Als ich aufsah, merkte ich, daß ich auf dem Sesselrand saß und den Hefter fest an die Brust gepreßt hielt. Ich hatte mich so ungehemmt meinen Träumereien überlassen, daß ich gar nicht darauf geachtet hatte, aus welchem Gefängnis die Aufzeichnungen stammten.
    Langsam drehte ich den Hefter um. War es Berwick nahe der Grenze? Das berüchtigte Tolbooth in Edinburgh? Oder ein Gefängnis im Süden wie Leeds Castle - oder gar der Tower in London?
    »Ardsmuir«, stand klar und deutlich auf

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