Ferne Ufer
welcher Verfassung wir Ian vorfinden würden, hatte ich den kleinsten meiner Medizinkästen mitgenommen, in dem sich zum Glück auch eine Flasche Alkohol und ein zierliches Skalpell befanden. Ich rasierte Jamie an der Beule ein wenig von seiner üppigen Haarpracht fort und desinfizierte die Stelle mit Alkohol.
»Dreimal tief Luft geholt und stillgehalten«, murmelte ich. »Ich muß schneiden, aber es ist rasch vorbei.«
»Gut.« Er schien mir ein wenig blaß, aber sein Puls ging regelmäßig. Gehorsam atmete er tief ein und laut seufzend wieder aus. Ich spannte das Stück Kopfhaut zwischen Zeige- und Ringfinger meiner linken Hand. Als er zum drittenmal ausatmete, sagte ich: »Jetzt!« und zog die Klinge rasch und fest durch die Haut. Er stöhnte auf, schrie aber nicht. Vorsichtig drückte ich mit der Daumenkuppe gegen die Schwellung, bis die Kugel wie eine Rosine aus dem Schnitt in meine Hand plumpste.
»Da ist sie!« Erst als ich das aussprach, merkte ich, daß ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Ich ließ das kleine Geschoß in seine Hand fallen und lächelte zittrig. »Ein Andenken«, sagte ich, drückte ein Stück Stoff auf die Wunde, verband Jamies Kopf und begann zu weinen.
Obwohl mir die Tränen über die Wangen strömten und meine Schultern bebten, war mir immer noch, als stünde ich neben mir. Das einzige, was ich spürte, war ein mildes Staunen.
»Sassenach! Alles in Ordnung?« Besorgt sah Jamie unter seiner provisorischen Binde zu mir auf.
»Ja«, stotterte ich schluchzend. »Ich… ich weiß… selbst n… nicht, w… warum ich w… weine!«
»Komm her!« Er nahm meine Hand und zog mich auf seinen Schoß. Dann schloß er mich in die Arme, drückte mich an seine Brust und stützte sein Kinn auf meinen Kopf.
»Es wird schon wieder«, flüsterte er. »Es ist doch vorbei, mo chridhe . Alles ist gut.« Zärtlich wiegte er mich in den Armen, strich mir übers Haar und flüsterte mir leise Koseworte ins Ohr. Ebenso plötzlich, wie ich von meinem Körper getrennt worden war, fühlte ich mich wieder darin zu Hause, und meine Tränen lösten den Kern aus Eisen auf.
Nach und nach versiegte der Strom, und ich lag still an seiner Brust. Nur zuweilen schluchzte ich noch auf. Ansonsten aber spürte ich nichts als Frieden und Jamies tröstlich warmen Körper an meiner Wange.
Undeutlich bekam ich mit, daß Ian und Stern zurückgekehrt waren, doch ich beachtete sie nicht. Einmal hörte ich Ian eher neugierig als aufgeschreckt sagen: »Dir läuft im Nacken das Blut herunter, Onkel Jamie!«
»Dann lege mir doch bitte einen neuen Verband an, Ian«, war die Antwort. Jamies Stimme klang sanft und zuversichtlich. »Ich muß jetzt erst mal deine Tante trösten.« Irgendwann schlief ich in seinen Armen ein.
Als ich aufwachte, lag ich auf einer Decke. Neben mir saß Jamie an einen Baumstamm gelehnt; seine Hand ruhte auf meiner Schulter. Als er spürte, daß ich wach wurde, drückte er sie sanft. Es war dunkel, und ich hörte ein regelmäßiges Schnarchen. Das mußte Stern sein, dachte ich schläfrig, denn Ian hörte ich mit Jamie reden.
»Nein«, sagte er gerade gedehnt, »so schlimm war es auf dem Schiff nicht. Man hatte uns zusammengesperrt; wir hatten also immer Gesellschaft, und das Essen war auch nicht schlecht. Außerdem ließ man uns zu zweit an Deck spazierengehen. Natürlich hatten wir alle Angst, denn wir wußten ja nicht, wohin die Reise ging - und die Seeleute haben nichts verraten. Aber man hat uns nicht mißhandelt.«
Die Bruja war den Yallah hinaufgesegelt und hatte ihre menschliche Fracht direkt in Rose Hall abgeladen. Die verdutzten Jungen waren dort von Mrs. Abernathy wärmstens empfangen worden, nur um auf der Stelle in ein neues Gefängnis geworfen zu werden.
Immerhin war die Kammer unter der Raffinerie mit Betten und Nachtgeschirren ausgestattet, und abgesehen vom Lärm, der bei der Zuckergewinnung gemacht wurde, hatten die Burschen es bequem. Doch keiner von ihnen wußte, warum er dort war, so daß sie mit der Zeit immer wüstere Spekulationen anstellten.
»Hin und wieder kam ein großer, schwarzer Kerl mit Mrs. Abernathy herunter in unsere Kammer. Wir flehten sie an, uns zu sagen, was sie mit uns vorhatte, oder uns laufen zu lassen. Aber sie lächelte nur, klopfte uns auf den Rücken und sagte, das würden wir schon früh genug herausfinden. Dann suchte sie sich einen Jungen aus, und der Schwarze packte ihn am Arm und nahm ihn mit.« Ian klang betrübt, aber auch ein wenig
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