Ferne Ufer
»Wo zum Teufel haben Sie diesen Trick gelernt?«
»Den hat mir mein älterer Bruder beigebracht«, entgegnete Grey und vergaß im Siegestaumel seine übliche Zurückhaltung. Für gewöhnlich gewann er nur drei von zehn Partien und der Erfolg schmeckte süß.
Fraser lachte und kippte den König um.
»Mit etwas Derartigem hätte ich bei einem Mann wie Lord Melton rechnen müssen«, meinte er beiläufig.
Grey erstarrte. Fraser, der das bemerkte, runzelte fragend die Stirn.
»Sie sprechen doch von Lord Melton, oder? Oder haben Sie noch einen Bruder?«
»Nein«, erklärte Grey. Seine Lippen fühlten sich pelzig an. Aber das lag vielleicht an der Zigarre. »Nein, nur diesen einen.« Wieder klopfte ihm das Herz bis zum Halse, diesmal jedoch nicht vor Triumph. Hatte der schottische Bastard etwa die ganze Zeit gewußt, mit wem er es zu tun hatte?
»Unsere Begegnung war zwangsläufig recht kurz«, sagte Fraser
trocken. »Aber denkwürdig.« Er trank einen Schluck, ohne Grey aus den Augen zu lassen. »Vielleicht wußten Sie bisher noch nicht, daß ich Lord Melton auf dem Schlachtfeld von Culloden kennengelernt habe.«
»Doch. Ich habe auch in Culloden gekämpft.« Greys Freude über den Sieg war zerplatzt wie eine Seifenblase. Von dem Rauch war ihm ein wenig übel. »Aber ich hätte nicht gedacht, daß Sie sich an Hal erinnern… oder daß Sie über unsere Verwandtschaftsverhältnisse Bescheid wissen.«
»Da ich dieser Begegnung mein Leben verdanke, werde ich sie wohl kaum vergessen«, entgegnete Fraser.
Grey blickte auf. »Soviel ich weiß, hielt sich Ihre Dankbarkeit in Grenzen, als Hal Ihnen nach der Schlacht gegenüberstand.«
Frasers Mund verhärtete sich kurz, entspannte sich aber sofort wieder.
»Ja«, sagte er leise. Er lächelte freudlos. »Ihr Bruder hatte sich strikt geweigert, mich zu erschießen. Für dieses Entgegenkommen war ich ihm damals nicht besonders dankbar.«
»Sie wollten sterben?« Grey zog die Brauen hoch.
Gedankenverloren starrte der Schotte auf das Schachbrett.
»Damals dachte ich, ich hätte gute Gründe«, sagte er leise.
»Welche Gründe?« wollte Grey wissen. Als Fraser ihn durchdringend ansah, fügte er hastig hinzu: »Bitte betrachten Sie meine Frage nicht als unverschämt. Es ist nur… ich fühlte damals ähnlich. Nach dem, was Sie von den Stuarts erzählt haben, fällt es mir schwer zu glauben, daß die Niederlage Sie in so tiefe Verzweiflung gestürzt hat.«
Das unmerkliche Zucken von Frasers Mundwinkeln ließ sich kaum als Lächeln deuten. Zustimmend neigte er den Kopf.
»Es gab Männer, die aus Liebe zu Charles Stuart kämpften… oder aus Treue zu seinem Vater, dem rechtmäßigen König. Aber es stimmt, zu denen gehörte ich nicht.«
Dabei ließ er es bewenden. Grey seufzte tief, ohne den Blick vom Brett abzuwenden.
»Wie gesagt, meine Empfindungen waren ähnlich. Ich… habe in Culloden einen ganz besonderen Freund verloren«, erklärte Grey. Weshalb, fragte er sich, drängte es ihn, gerade Fraser von Hector zu erzählen - einem schottischen Krieger, der mit gezogenem
Schwert über das Schlachtfeld von Culloden gestürmt war, einem Schwert, das möglicherweise… Aber er mußte jemandem erzählen, wie ihm ums Herz war. Und er konnte mit niemandem darüber sprechen außer mit Fraser, diesem Gefangenen, der es nicht weitererzählen konnte und keine Gefahr für ihn darstellte.
»Er - mein Bruder - zwang mich, den Leichnam anzusehen«, stieß Grey hervor. Er betrachtete den Ring an seiner Hand, auf dem Hectors Saphir tiefblau schimmerte. Der Stein war kleiner als der, den Fraser ihm widerwillig überlassen hatte.
»Er sagte, ich müsse es tun, denn wenn ich ihn nicht tot sähe, würde ich niemals glauben können, daß er nicht mehr lebt. Wenn ich mich nicht vergewissern würde, daß mein Freund Hector tatsächlich gestorben ist, würde ich mich bis an mein Lebensende grämen. Wenn ich mich dem Anblick stellen und begreifen würde, könnte ich trauern und später darüber hinwegkommen… und vergessen.« Mit verzerrtem Lächeln blickte er auf. »Im allgemeinen hat Hal recht, aber nicht immer.«
Vielleicht hatte er den Verlust überwunden, doch vergessen würde er niemals. Den letzten Anblick von Hector, wie er im Licht der Morgendämmerung still, mit wächsernem Gesicht dagelegen hatte, die langen Wimpern weich auf den Wangen ruhend, würde er immer in Erinnerung behalten.
Eine Weile verharrten sie schweigend. Fraser griff nach seinem Glas und leerte es. Wortlos
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