Ferne Ufer
am anderen Ende der Zelle, wo die Männer in freundschaftlicher Runde zusammensaßen. Das Licht der Kerze verwandelte sich in schwarze Schatten, umgeben von einem goldenen Schein, ähnlich den Bildern gesichtsloser Heiliger auf alten Meßbüchern.
Woher mochten die Anlagen stammen, die die Persönlichkeit
eines Menschen ausmachten? Von Gott? Kamen sie hernieder wie der Heilige Geist und die Feuerzungen, die sich auf die Apostel senkten?
Claire, seine Claire - was hatte sie zu ihm gesandt, weshalb war sie in ein Leben geworfen worden, das sicherlich nicht ihrer Bestimmung entsprach? Trotzdem hatte sie immer gewußt, was zu tun war, worin ihre Aufgabe bestand. Nicht jeder hatte das Glück, die eigenen Gaben zu erkennen.
Aus dem Dunkel vernahm er ein vorsichtiges Schlurfen. Er sah zwar nur einen Umriß, aber er wußte dennoch gleich, wer es war.
»Wie geht es dir, Angus?« fragte er leise auf gälisch.
Der Junge kniete sich schüchtern neben ihn und nahm seine Hand.
»Alles… in Ordnung. Aber Sie, Sir… ich meine… es tut mir leid…«
»Mir geht es auch gut«, sagte er. »Leg dich hin, mein Junge, und ruh dich aus.«
Der junge Mann neigte den Kopf in einer seltsam förmlichen Geste und drückte ihm einen Kuß auf die Hand.
»Ich… darf ich bei Ihnen bleiben, Sir?«
Obwohl Frasers Hand tonnenschwer schien, hob er sie hoch und legte sie dem jungen Mann auf den Kopf. Sie glitt zwar gleich wieder hinunter, aber er spürte, wie Angus sich getröstet entspannte.
Er war zum Führer geboren und im Laufe der Zeit weiter geschliffen und gebeugt worden, um seine vorherbestimmte Rolle auszufüllen. Aber was war mit dem Mann, der zu der vor ihm liegenden Aufgabe nicht geboren war? John Grey zum Beispiel, oder Charles Stuart.
Aus der eigenartigen Distanz, die er verspürte, konnte Fraser Charles Stuart, dem schwachen Mann, der einst sein Freund gewesen war, zum erstenmal verzeihen. Da er für seine Gabe so oft den Preis hatte zahlen müssen, konnte er nun erkennen, daß es weitaus furchtbarer war, vom Schicksal als König erwählt zu werden, ohne für diese Aufgabe geeignet zu sein.
Angus MacKenzie kauerte neben ihm an der Wand, hatte den Kopf auf die Knie gebettet, sich die Decke über die Schultern gelegt und gab ein leises Schnarchen von sich. Fraser spürte, wie ihn der Schlaf übermannte und sich die zerstreuten Teile seines Selbst
allmählich wieder zu einem Ganzen fügten. Und er wußte, daß er am nächsten Morgen heil - wenn auch ziemlich wund - erwachen würde.
Plötzlich fühlte er sich von vielen Dingen befreit. Von dem Gewicht plötzlicher Verantwortung, von der Notwendigkeit, Entscheidungen zu fällen. Die Versuchung war wie weggeblasen, zumal keine Möglichkeit bestand, ihr nachzugeben. Aber noch wichtiger war, daß die Last des lauernden Zorns von ihm genommen worden war, vielleicht sogar für immer.
So hatte John Grey ihm also sein Schicksal zurückgegeben, dachte er, bevor sich die Schleier des Schlafes über ihn legten.
Fast hätte er ihm dankbar sein können.
13
Zwischenspiel
Inverness, 2. Juni 1968
Als Roger am Morgen nach unten kam, lag Claire zusammengerollt auf dem Sofa unter einer Wolldecke. Der Boden war übersät mit Papieren, die aus einem der Aktendeckel gerutscht waren.
Durch die wandhohen Fenster flutete das Morgenlicht, doch Claires Gesicht lag im Schatten. Soeben fielen die Strahlen über den staubigen Samtbezug und tanzten auf ihrem Haar.
Ein durchsichtiges Gesicht in mehr als einer Hinsicht, dachte Roger, als er sie betrachtete. Ihre Haut war so hell, daß an den Schläfen und am Hals die blauen Venen durchschimmerten, und die klaren Knochen zeichneten sich so deutlich ab, als wären sie aus Elfenbein geschnitzt.
Die Decke war zur Hälfte heruntergerutscht und gab Claires Schultern frei. Der Arm lag entspannt auf ihrer Brust, und in der Hand hielt sie einen zerknitterten Bogen Papier. Roger hob behutsam den Arm hoch, um das Blatt darunter hervorzuziehen.
Er entdeckte den Namen auf Anhieb.
»James MacKenzie Fraser«, murmelte er. Rasch sah er wieder zu der schlafenden Frau auf dem Sofa. Die Sonnenstrahlen waren gerade an ihrer Ohrmuschel angelangt. Sie rührte sich, wandte den Kopf und versank gleich wieder in friedlichen Schlummer.
»Ich weiß nicht, wer du warst, Junge«, flüsterte Roger. »Aber sicherlich was ganz Besonderes, um sie verdient zu haben.«
Behutsam zog er Claire die Decke über die Schulter und ließ die Jalousien herunter. Dann sammelte er die
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