Ferne Ufer
seinem Pferd - stärker als beabsichtigt - die Fersen in die Seiten.
Grey wurde im großen Salon empfangen. Lord Dunsany sah mit ein paar freundlichen Bemerkungen über seine unordentliche Kleidung und schmutzigen Stiefel hinweg. Lady Dunsany, eine kleine, rundliche Frau mit ausgebleichtem, blondem Haar, wirkte übertrieben gastfreundlich.
»John, Sie müssen etwas trinken! Und Louisa, meine Liebe, hol die Mädchen, damit sie unseren Gast begrüßen können.«
Als sich die Hausherrin einem Lakai zuwandte, um ihm Order zu erteilen, beugte sich Seine Lordschaft über sein Glas und murmelte dem Gast zu: »Haben Sie den schottischen Gefangenen mitgebracht?«
»Ja«, antwortete Grey mit gedämpfter Stimme. »Er wartet in der Eingangshalle. Ich war mir nicht sicher, was Sie mit ihm vorhaben.«
»Hatten Sie nicht gesagt, daß der Mann gut mit Pferden umgehen kann? Dann soll er als Stallknecht arbeiten, wie Sie es vorgeschlagen haben.« Lord Dunsany warf einen Blick auf seine Frau und drehte ihr vorsichtshalber den hageren Rücken zu, damit sie nichts mitbekam. »Ich habe Louise nicht gesagt, um wen es sich handelt«, murmelte er. »Diese Furcht vor den Hochlandschotten während der Erhebung, das ganze Land starr vor Angst und Schrecken! Sie hat Gordons Tod noch immer nicht verwunden.«
»Ich verstehe.« Beruhigend tätschelte Grey den Arm des Alten. Er glaubte nicht, daß Dunsany den Tod des Sohnes bewältigt hatte, auch wenn er seiner Frau und den Töchtern zuliebe mutig Haltung bewahrte.
»Ich werde ihr nur sagen, daß der Mann ein Diener ist, den Sie mir empfohlen haben. Äh… man kann ihm doch trauen, oder? Ich meine… wegen der Mädchen…« Lord Dunsany warf einen besorgten Blick auf seine Frau.
»Aber sicher«, beruhigte Grey seinen Gastgeber. »Er ist ein Ehrenmann und hat sein Wort gegeben. Ohne Erlaubnis wird er weder Ihr Haus betreten noch Ihren Grund und Boden verlassen.« Er wußte, daß Helwater etwa zweihundertfünfzig Hektar Land
umfaßte - ein langer Weg in die Freiheit, aber wohl doch ein wenig besser als Ardsmuir oder das elende Dasein in den fernen Kolonien.
Als er vom Flur her Stimmen vernahm, drehte Dunsany sich rasch um und strahlte seinen beiden Töchtern entgegen.
»Erinnern Sie sich an Geneva, John?« fragte er und forderte seinen Gastgeber auf, näher zu treten. »Isobel war noch ein Kleinkind, als Sie das letztemal zu Besuch waren. Wie die Zeit vergeht, nicht wahr?« Etwas bestürzt schüttelte er den Kopf.
Die vierzehnjährige Isobel war von kleinem Wuchs und ebenso rund, lebhaft und blond wie ihre Mutter. Geneva erkannte er nicht wieder. Er hatte noch das magere Schulmädchen von einst in Erinnerung, das jedoch wenig Ähnlichkeit mit der anmutigen Siebzehnjährigen besaß, die ihm nun die Hand entgegenstreckte. Während Isobel mehr ihrer Mutter glich, schlug Geneva nach ihrem Vater. Lord Dunsanys ergrautes Haar mochte früher auch so kastanienbraun gewesen sein, und die Augen des Mädchens waren von demselben klaren Grau.
Die Töchter begrüßten den Gast höflich, aber ihr Interesse galt offenbar einem anderen.
»Papa«, sagte Isobel und zupfte den Vater am Ärmel. »In der Halle ist ein riesengroßer Mann. Er hat uns die ganze Zeit angesehen, als wir die Treppe herunterkamen. Er sieht unheimlich aus.«
»Wer ist das?« fragte Geneva. Sie war zurückhaltender als ihre Schwester, aber offenbar genauso neugierig.
»Das… das muß wohl der neue Stallknecht sein, den John mitgebracht hat«, erklärte Lord Dunsany nervös. »Einer der Lakaien soll ihn…« Der Hausherr wurde von dem plötzlichen Erscheinen eines Dieners in der Tür unterbrochen.
»Sir«, sagte er schockiert, »in der Eingangshalle steht ein Schotte!« Um sicherzustellen, daß die Meldung Glauben fand, wandte er sich um und deutete dramatisch auf die große schweigende Gestalt hinter ihm.
Als der Fremde Lord Dunsany erblickte, trat er einen Schritt vor und neigte höflich den Kopf.
»Ich heiße Alex MacKenzie«, stellte er sich mit schottischem Akzent vor. Er verbeugte sich, ohne den geringsten Anflug von Spott erkennen zu lassen. »Zu Ihren Diensten, Mylord.«
Für jemanden, der an harte Arbeit auf einem Gut oder in einer Strafanstalt gewöhnt war, bedeutete die Tätigkeit als Stallknecht auf einem Gestüt im Lake District keine sonderliche Anstrengung. Aber für einen Mann, der zwei Monate lang in einer Zelle zugebracht hatte, nachdem die Kameraden in die Kolonien deportiert worden waren, war es
Weitere Kostenlose Bücher