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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Vertrautes im Blick. Irgendwann bemerkte er mich, und ein Lächeln ließ sein Gesicht erstrahlen. Dann kam er auf mich zu und sagte, immer noch lächelnd: » Mr Carlino Di Lontrone, I suppose ?«
    Einen Augenblick später hielt ich Charles, meinen amerikanischen Vetter, in den Armen.

21
    Charles Di Lontrone jr. war ganz anders, als man sich den Enkel eines der dreißig reichsten Männer Amerikas vorstellen würde. Mit den kurz geschorenen Haaren, der drahtig-hageren Gestalt und seiner Kleidung erinnerte er eher an einen jungen Asketen. Nicht zufällig lehrte er, obwohl er noch keine dreißig war, mittelalterliche Mystik an der Columbia University. Er war wegen einer Vortragsreise nach Italien gekommen; außerdem wollte er die Heimat seiner Vorfahren kennenlernen und hatte Jennifer Collins Jones mitgebracht. Sie dagegen schien genau das zu sein, was sie war: eine anspruchsvolle New Yorker Erbin, die er bald heiraten würde, und eine WASP, wie sie im Buche steht - von einigen überschüssigen Rundungen vielleicht mal abgesehen. Nachdem ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, befand ich mich nun also zwar nicht Onkel Richard gegenüber, aber doch dem Sohn seines Sohnes, dem Mann jedenfalls, der den Lauf meines Schicksals ändern konnte - und niemals hatte ich seiner dringender bedurft.
    Ich war dermaßen aufgeregt, dass mir die Knie zitterten, als ich unter den Blicken der üblichen Tagediebe, die vor der Bar herumlungerten, in ihr Auto stieg, um sie zur Pension Miramonti von Apaches Mutter zu bringen. Es sei eine bescheidene, aber die einzig verfügbare Unterkunft, erklärte ich ihnen. Um nichts in der Welt wollte ich ungastlich erscheinen, aber sie nach Hause mitzunehmen kam überhaupt nicht infrage. Ich wusste genau, wie Nonnilde reagiert hätte.

    Nach ein paar hundert Metern stiegen wir aus dem Mercedes. Beflissen lud ich mir die sperrigsten Gepäckstücke auf, und als wir die alten Gässchen hinauftrabten, begann ich, von lokalpatriotischem Stolz erfüllt, ihnen die Geschichte des Dorfes zu erläutern. Dabei lief ich voran und machte weite Umwege, um die elendsten Winkel zu meiden, denen die Moderne ihren Stempel aufgedrückt und die kostbare, über Jahrhunderte entstandene Patina unwiderruflich zerstört hatte. Irgendwann fühlte ich mich allerdings nicht nur erschöpft - verdammt, was hatten die denn in ihren Koffern? -, sondern kam mir auch noch lächerlich vor: Was konnte dieses bröcklige Gemäuer, sofern es nicht mit Beton verstärkt war, Menschen bedeuten, die wohl die ganze Welt bereist hatten?
    Als wir beim Belvedere angelangt waren - in diesem Augenblick verkündeten die Glocken die Mittagsstunde, und am strahlend blauen Himmel flitzten Hunderte von Schwalben herum -, bemerkte ich aber, dass sie ganz begeistert waren, so begeistert, wie nur Amerikaner es sein können. Und in der Tat, sobald der letzte Glockenschlag verklungen war, war es Charles, der wieder mit der Lokalgeschichte anfing. Er war eine wandelnde Enzyklopädie, dieser Mann. Nachdem die Apache-Mutter die Tür zu ihrem besten verfügbaren Zimmer hinter sich zugezogen hatte - ein Zimmer mit einer Tapete, die einen seekrank machte, ohne Bad, aber mit Emaille-Krug und Emaille-Schüssel in der Ecke, was eine weitere Aufwallung von Yankeerührung auslöste - und wir auf die kleine Terrasse traten, die über dem Tal schwebte, holte Charles tief Luft, breitete die Arme aus, als wollte er sich vom Panorama aufsaugen lassen, zeigte dann Jennifer zielsicher mein Zuhause und sagte: »Mir ist bekannt, dass Tante Ilde erzürnt ist, aber mein größter Wunsch ist es, jene Stätte zu sehen, in der einstmals mein Vater weilte« - ja, sein akzentfreies Italienisch konnte manchmal ein wenig gestelzt klingen.
    Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her. Ich wollte ihm klarmachen, wie kompliziert die Sache war, und antwortete dann
mit einem Lächeln, dass ich alles tun würde, um ihn zufriedenzustellen.
    » Grazie , Carlo, ich weiß nicht, wie ich dir je meine Dankbarkeit werde bekunden können.« Angesichts seiner Rührung war ich in Versuchung, ihm gleich darzulegen, wie er sie bekunden könne, seine Dankbarkeit, aber dies war noch nicht der richtige Augenblick. Sie waren ja gerade erst angekommen, und ich musste gut achtgeben, dass ich mir diese letzte große Chance nicht verdarb. Weitere würde ich nicht bekommen, das wusste ich.
    Am Nachmittag nahm ich sie auf die übliche Touristentour mit, die auch die Wohnstätte der wahren Mona Lisa einschloss. Sie

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