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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Strömung war dermaßen interessant, dass ich die Katze vergaß und mich sogar über das Geländer beugte. In dem Moment schrie jemand meinen Namen, und der Pächter, der aus diesem Anlass sogar einmal rannte, sprach zwei ganze Sätze, und das beinahe in einem einzigen Atemzug. »Bist du verrückt?«, lautete der erste. »Was, wenn du da reingefallen wärst?«, der zweite. Jedenfalls hieß er mich am folgenden Donnerstag aussteigen und nahm mich mit in das Haus neben dem Milchladen. Er deutete mit dem Kinn in Richtung des laufenden Fernsehers und verschwand hinter einer Tür mit Milchglasfüllung.
    Es ist ein italienischer Morgen in den sechziger Jahren, und weil wir Sommer haben, zeigen sie ausnahmsweise einen Spielfilm, in diesem Fall einen Kriegsfilm, und ich ergötze mich gerade an einer schönen Schlacht, als ich erneut die Katze klagen höre. Ohne es zu wollen, höre ich außer der Stimme der Katze auch noch die des Schutzengels: Sie erinnert mich an die Pflicht aufzupassen, dass kein Tierchen leidet, und kaum stehe ich auf, merke ich, dass das Stöhnen ausgerechnet aus Richtung der Milchglastür kommt. Deswegen
also ist der Pächter so seltsam! In Wirklichkeit ist er so etwas wie ein grausames Ungeheuer, das sich einen Spaß daraus macht, wehrlose Tierchen zu quälen, und während er sich mit ihnen amüsiert, frage ich mich, ob nicht bald auch ich an die Reihe komme, zumal ich ja ebenfalls klein und wehrlos bin.
    Ich hätte davonlaufen und der Großmutter erzählen können, bei welcher Art von Leuten sie mich gelassen hat, aber bis jetzt waren es ja bloß Vermutungen. Ich brauchte Beweise. Deshalb schielte ich durch das Schlüsselloch und sah, wie das Ungeheuer sich auf der kraushaarigen Brünetten bewegte und dass das Stöhnen aus ihrem Mund kam, und das wunderte mich nicht, wo er doch gerade im Begriff war, ihr den Hals umzudrehen. Von wegen Katzen! Dieser Unhold quälte Frauen.
    Ich hatte nicht den Mut, ihn während der Rückfahrt auch nur anzusehen. Sobald wir auf dem Hof angekommen waren, flüchtete ich mich eilends zu Vitina, blass vor Angst und mit einem so starren Blick wie dem von Fausto, und ich begriff nun, warum der immer dieses Gesicht machte: Was für einen Gesichtsausdruck kann der Sohn eines Peinigers schon haben? Ich musste schleunigst abhauen. Sosehr ich die Großmutter auch verärgert haben mochte - dass ihrem einzigen männlichen Enkelkind der Hals umgedreht wurde, wollte sie gewiss nicht. Ich hatte mich entschlossen, am nächsten Morgen, wenn die anderen im Stall waren, zu türmen. Das war der richtige Augenblick.
    Ich blieb die ganze Nacht wach, bis auf einen kurzen Traum, in dem - was nur natürlich ist - der Pächter-Folterer mich verfolgte und packte, und er hätte mich erdrosselt, wenn mich nicht glücklicherweise ein Hupen geweckt hätte. Onkel Erminio, dachte ich - im Dorf hatte nur sein Laster eine so laute Hupe -, und ich stürzte voller Hoffnung ins Freie. Stattdessen sah ich einen flachen roten Rennwagen mit einem Keramikblock auf dem Dach, bestimmt ein Zusatzmotor, der ihm diese Geschwindigkeit eines plutonischen Raumschiffs ermöglichte. Drinnen, umgeben von einer goldglitzernden Masse, saß Piètr, der Sohn aus Milàn; sein schöner Blondkopf
ruckte bei der Bremsung vor und zurück. Einen Augenblick blieb er regungslos sitzen. Dann nahm er die Sonnenbrille ab, drehte sich um und grinste mich durch eine Staubwolke hindurch an.

4
    Ich war nicht der Einzige, der dieser Szene beiwohnte. Auf der Eingangsstufe saß unter seinem speckigen Hut Genuario, und ich zuckte zusammen, als ich ihn sah. Er dagegen blieb regungslos wie eine Eidechse, die sich sonnt, während sein Sohn, der Auswanderer, aus dem Auto stieg.
    Dieser hat die Statur der Mutter und die blonden Haare des Vaters, die ihm aber bis zu den Schultern herabreichen. Über zerschlissenen Jeans trägt er ein schwarzes T-Shirt mit Spiralenmuster; sein Gang ist lässig, und die Spitze des einen Stiefels zeigt immer genau auf den Absatz des anderen. Wie ein soeben vom Pferd gestiegener Cowboy sieht er aus, nur asketischer und eleganter. Nun reckt er das Kinn in Richtung seines Erzeugers und fragt: »Und Ma’? Und Faust’?« Der andere zuckt mit den Achseln, als wollte er sagen, du weißt doch genau, wo sie sind, wo sollen sie schon sein. Der Cowboy wirkt gleichgültig - nicht die geringste Mimik verzerrt sein bildhübsches Gesicht. Er zieht ein zartblaues Päckchen und Zündhölzer hervor, streicht eines an der Hose an -

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