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Ferne Verwandte

Ferne Verwandte

Titel: Ferne Verwandte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaetano Cappelli
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Zimmerwänden entlang ab. »Setz dich auf deinen Platz!«, befiehlt er Fausto. Der gehorcht, ohne
einen Muckser zu tun, starrt katatonisch auf die übliche Stelle an der Wand, und genau zu dieser Stelle zerrt sein Bruder jetzt die Nachtigall-Mutter. Dort steht ein Backtrog. »Zu niedrig!«, befindet Pit, läuft hinaus und kehrt mit einem leeren Flaschenkasten zurück, den er auf den Trog stellt. Er nimmt den Minerva aus den bereits steif gewordenen mütterlichen Armen und setzt ihn auf dem Kasten ab. Dann verbindet er die Kabel mit dem Gerät, und der Bildschirm wird langsam hell, um einen jener Filme zu zeigen, wie sie damals ausschließlich im Sommer im Vormittagsprogramm ausgestrahlt wurden.
    Auf dem Bildausschnitt sieht man haargenau dieselben Stiefel, die Pit anhat, darin zwei Beine, die - mit dem gleichen elastischen Gang - die staubige Allee eines anscheinend ausgestorbenen Dorfs hinuntergehen. Pit studiert indessen, als würde er zielen, die Bahn von Faustos Blick, schiebt den Minerva ein winziges Stückchen weiter und sagt dann: »Jetzt stimmt’s!«, und zwar im selben Moment, als der Sheriff, der inzwischen zur Gänze auf dem Bildschirm erschienen ist, den ersten Schuss auf einen Banditen abgibt, und mir kommt es vor, als hätte Pit ihn umgelegt, diesen Banditen.
    Dann ging Pit zufrieden hinaus.
    Ich sah, wie er sich in den Liegestuhl fallen ließ, während von drinnen nur das Pfeifen der Kugeln zu hören war: Zum ersten Mal seit meiner Ankunft hielt Vitina den Mund. Aber nicht lang. Einige Minuten vergingen, und schon begann sie, mal für diesen, mal für jenen Partei zu ergreifen, das Schicksal der von den Gesetzlosen entführten Schönen zu bedauern, den Helden anzufeuern - eine einzige Tortur. Pit drehte sich von einer Seite zur anderen, bevor er sich stöhnend erhob und in Richtung Auto ging. Auch ich stand auf. Ich fixierte ihn mit flehendem Blick, wie er da hinter der Scheibe saß, den Motor anließ und den Plattenspieler mit der Schlitzöffnung, der am Armaturenbrett befestigt war, in Betrieb setzte, bis er mich durch seine prachtvolle Sonnenbrille ansah und sagte: »Los, steig ein!« Und so kam es, dass wir unzertrennlich wurden.

    Alles, was es zu lernen gab, habe ich von Pit gelernt, und er hatte mir vieles beizubringen. Er kannte sich gut aus in der Welt, und wenn man ihn ansah, hätte wirklich niemand vermutet, dass er der Sohn der Leute war, deren Sohn er war, und dass er bei der Alemagna arbeitete, genauer gesagt, gearbeitet hatte, denn er hatte gerade gekündigt und musste über die Zukunft nachdenken - deswegen war er, wie er mir bald schon anvertraute, nach Hause zu seiner Familie zurückgekehrt. In der Zwischenzeit fuhren wir jeden Tag ins Dorf hinauf. Wir preschten los und bremsten in den Kehren nur wenig ab, sodass der flache rote Flitzer beim steilen Anstieg zur Piazza kaum je das Tempo drosselte. Von der Sonne geblendet, ließen wir die Tagediebe unter den Sonnenschirmen mit der Aufschrift Punt & Mes hinter uns und ignorierten ihre Kommentare - »Wie der daherkommt!«, »Diese Babyfrisur!«, »Wie ein Homo!« - und sobald wir in der Bar waren, holte er mir aus dem Kühlschrank ein Algida-Eis in der Tüte - etwas für wirklich Reiche und ohne dass Sonntag gewesen wäre. Er plauderte ein wenig mit Imma, der Nichte des Besitzers, einer seiner Flammen, während ein Gast mit Mausgesicht und einem aufgeschlagenen Exemplar des Rätselhefts Settimana enigmistica vor sich sagte: »Zitrusfrucht mit sechs Buchstaben«, worauf Immas Onkel vom Tresen her beiläufig antwortete: »Hammel.« Dann las das Mausgesicht: »Hauptstadt von Texas mit sechs Buchstaben«, aber da waren wir schon im nächsten Raum, um in Erfahrung zu bringen, was dort abging. Ein Stündchen lang räumte Pit ab an den paar Tischen, um die herum schlecht rasierte Spieler in Blaumännern oder karierten Hemden saßen, Strohhütchen auf dem Kopf, die wie Tirolerhüte aussahen. »Das sind Leute, die ein Leben lang spielen, aber noch nie ein Buch über Tressette gelesen haben. Es gibt einen ganzen Haufen solcher Bücher, aber es reicht, sich ein einziges zu Gemüte zu führen, und schon weiß man, worauf es ankommt. Merke, wozu Bildung gut ist!«, sagte er.
    Als wir hinausgingen, tanzten grelle Reflexe auf dem Blech der Autos; die Tische unter den Sonnenschirmen waren leer, die Goldfische im Brunnen reglos. Wir machten den üblichen kleinen Abstecher
zur Tabakfrau, einer Art Lemure, die mit vier kurzen oxydierten Nadeln im

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