Ferne Verwandte
genau wie im Western - und sieht über die Flamme hinweg in meine Richtung. Die Zigarette zwischen den Lippen, rückt er den Gürtel zurecht und streckt mir unvermittelt die Hand entgegen. »Pietro Cardano, für seine Freunde Pit«, erklärt er. »Und du, wie heißt du?« Ich sage es ihm, und er blickt Genuario fragend an. »Der Sohn des Ammericàn … Donnilde«, spuckt der Folterer aus.
»Aha«, kommt als Antwort. »Also der Tscharlz … Gut, kleiner Tscharlz, dann lauf mal los und hol mir mai Madar end mai
Bradar.« Ich sehe ihn unschlüssig an. » Hey «, wundert er sich, »der Sohn vom Ammericàn und versteht die Sprache nicht? Meine Mutter und Fausto, geh, hol sie her, sag ihnen, dass Pit aus Mailand da ist.«
Und ich gehe, ich sause in halsbrecherischem Tempo hinunter, über die Felder, zum Weinberg, zum Brunnen, ganz erfüllt von meiner Rolle als Übermittler wichtiger Neuigkeiten, und brülle, kaum in Rufweite angelangt: »Vitina, Pit ist da!«
Sie stößt die Hacke in die Erde und sieht mich verstört an. »Wer iss da?«, ruft sie.
» Pit !«, antworte ich.
»Pit? Und wer soll dieser Pit sein?«
»Dein Sohn aus Mailand!«
» Pieètr , figlio mio !«, schreit sie auf. Sie wirft die Hacke in die Luft, packt Fausto, spuckt sich im Laufen in die Hand und fährt ihm damit übers Gesicht, rückt ihr Kopftuch zurecht, und bei alledem überholt sie mich noch.
Keuchend, aber gerade noch rechtzeitig, treffe ich ein, um Augenzeuge der nun folgenden Szene zu werden. Die Riesin hat ihren Zweitgeborenen losgelassen und galoppiert auf ihren Lieblingssprössling zu. Wenn auch von robuster Konstitution, gerät dieser unter dem Aufprall dieses Zentners gerührter Muskeln und Knochen sichtlich ins Wanken; sein hübsches Gesicht versinkt in einer Flut von Küssen, und sein Gehör wird dank ihrer spitzen Schreie einer schweren Prüfung unterzogen. Ich höre, wie er zu ihr sagt: »Schon gut, Ma’ … Schon gut« - und in seiner Stimme liegt mehr als nur eine Spur Verdruss. Tatsächlich schubst er sie kurz darauf von sich fort.
Vitina merkt nicht einmal, dass ihr Sohn sie um ein Haar umgestoßen hätte. Wie in Ekstase starrt sie ihn an, während er sich ihre Spucke aus dem Gesicht wischt. Verzückt zwitschert sie: »So’ne Überraschung! Ich hab dich für August erwartet, wieso haben die von der Fabrik dich weggelassen?«, und da sie keine Antwort erhält, schiebt sie nach: »Wie schön du bist, mein Sohn! Wie der Erzengel
Gabriel mit diesem Haar und sooo elegant!« Dann wendet sie sich an Fausto, der wie üblich mit ausdrucksloser Miene schweigt. »Hast du Piètr gesehen? Er iss dein Bruder. Gib ihm’n Kuss!«, und Pit schickt sich schon an, ihn zu umarmen, sagt dann aber glatt voller Ekel: »Der Kerl stinkt ja jedes Mal übler … Na, jetzt sorge ich für Abhilfe.« Er geht zum Auto zurück, öffnet die Tür. »Los, ausladen«, befiehlt er brüsk.
Die Goldmasse, die ihn, als er am Steuer saß, wie die Aura eines Plutonianers umgeben hatte, entpuppt sich nun als Unmengen vergoldeter Panettoneschachteln der Firma Alemagna, mit denen er den ganzen Innenraum hatte vollstopfen können; beim Zusatzmotor auf dem Dach handelt es sich um ein Klosett, das mit Pflaster an einer elektrischen Pumpe befestigt ist; das flache rote Rennauto ist auch nur ein altes Volkswagen-Coupé - aber das sollte mir erst ein paar Jahre später dämmern. Solange wir Kinder sind, erscheint uns bekanntlich alles groß und wunderbar.
Auch Vitina kommt aus dem Staunen nicht heraus, während sie, zusammen mit mir und Fausto, den Flitzer ausräumt. Pit beschränkt sich darauf, die ganze Operation zu koordinieren. Überflüssig zu erwähnen, dass Genuario in der Sonne sitzen bleibt, trotz der aufgeregten Kommentare, die seine Frau bei jeder Ladung abgibt, trotz des Geschreis, in das sie ausbricht, als der Sohn aus Mailand, der sich höchstpersönlich ins Auto gebeugt hat, ein Fernsehgerät herauszieht. Erneut möchte sie ihn mit Küssen bedecken, aber er drückt ihr den Apparat in die Arme und schubst sie umstandslos in Richtung Haus. Dann gibt er mir eine Kabelrolle und Fausto eine Antenne.
Vitina erwartet uns drinnen, den enormen Minerva in den Armen; er ist umklebt mit einem Band, auf dem in roten Buchstaben steht: Feierabendverein Alcide De Gasperi . Durchgeschwitzt, wie sie ist, lässt Pit sie erst einmal stehen. Er geht zum Fenster, lässt sich Kabel und Antenne aushändigen und steckt sie in die Steckdose. Dann rollt er das Kabel an den
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