Ferne Verwandte
ich hinter ökonomischen Abhandlungen versteckte, oder ich sah fern, während ich darauf wartete, dass Onkel Richard zurückkam - in der Zwischenzeit hatte ich dank einer kleinen, diskreten Umfrage herausbekommen,
dass er sich auf Geschäftsreise befand. Ich brauchte nicht lange zu warten. Nach ein paar Tagen klingelte das Telefon wieder, und dieses Mal war er es, oder genauer gesagt, Lucille, seine Sekretärin.
Charles’ Versicherungen zum Trotz hätte ich mir vor Angst beinahe in die Hose des eleganten grauen Maßanzugs gemacht - eines der beiden ersten, die soeben bei mir abgegeben worden waren -, als ich in den großen Sitzungssaal geführt wurde, wo ungefähr zwanzig Personen, ebenfalls in Grau, um einen riesigen ovalen Tisch herumsaßen. Ich spürte ihre neidischen Blicke auf mir ruhen, als mir, immer noch von Lucille, der Platz rechts von dem einzigen noch leeren Stuhl zugewiesen wurde, auf dem einige Minuten später der alte Tycoon Platz nehmen sollte.
Bei seinem Einzug sprangen alle auf. Er würdigte niemanden eines Grußes - mich erst recht nicht - und beschränkte sich darauf, das Kinn anzuheben. Ein Typ mit sicherem Auftreten ging zu einer Leinwand, öffnete eine Mappe, und sobald sich die Vorhänge mit einem elektrischen Summen geschlossen hatten, hielt er einen ungefähr zehn Minuten langen Vortrag darüber, wie vorteilhaft es wäre, die Firma Presidium zu kaufen, eine Fabrik in Minnesota, die Handschellen, Schlagstöcke, Tränengas, Schutzhelme und Schutzschilde herstellte. Als er fertig war, wurden die Vorhänge wieder geöffnet, der Onkel reckte ein weiteres Mal das Kinn, und nun brachten der Reihe nach sämtliche Anwesenden ihre positive Meinung über den Kauf zum Ausdruck. Meine Hände waren vor Aufregung schweißnass, gleichzeitig aber hatte ich große Lust, auch meinen Senf dazuzugeben. Ich wusste nicht, ob man mich darum bitten würde, ich wusste auch nicht, ob ich es in meinem Innersten wirklich wollte, doch kaum hatte Onkel Richard mir ein Zeichen gegeben, legte ich ohne jedes Zögern los. Meine Argumentation beruhte auf zwei einfachen empirischen Tatsachen, aber während meines Vortrages wurde mir klar, dass ich die bis dahin gemachten Analysen allesamt über den Haufen warf.
»Jede Epoche hat ihre führende Nation«, hob ich an, »beziehungsweise die Nation, die aufgrund ihrer wirtschaftlich-militärischen
Macht und ihres kulturellen Einflusses der übrigen Welt ihre Gesetze diktiert. Gegenwärtig wird diese Position von den Vereinigten Staaten von Amerika eingenommen. Es ist überflüssig, ihre verschiedenen Spitzenstellungen hier zu erläutern, Sie alle sind sich ihrer vollkommen bewusst und außerdem zu Recht stolz darauf. Nun hatten sich während der bereits weit zurückliegenden sechziger Jahre, wie wir alle wissen, ausgerechnet in den Vereinigten Staaten die ersten Herde dessen entzündet, was als Studentenrevolte in die Geschichte eingegangen ist.« An dieser Stelle flocht ich eine detaillierte Untersuchung des Phänomens ein, ausgehend von der Beat Generation, über den Vietnamkrieg, die Black Panthers und die Bewegungen der Stadtguerilla bis hin zu den Hippies und zur Wiederwahl Nixons im Jahr’71, die, da sie mit der schrecklichsten Eskalation des amerikanischen Engagements in Südostasien zusammenfiel, tatsächlich das Ende der Studentenbewegung markierte. In dieser Situation war Letztere höchstens noch imstande gewesen, ein paar pazifistische Märsche ins Leben zu rufen: ein schwacher Abglanz der Krawalle auf den öffentlichen Plätzen der vorhergehenden Jahre mit Toten und Verletzten wie beispielsweise in Kent State, wo die Nationalgarde auf die Demonstranten geschossen hatte - ähnlich wie die meisten jungen Italiener war ich über die Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika viel besser informiert als über die der eigenen Heimat.
»Die Zeit des großen Aufruhrs ist also vorbei, und ich kann auch keine Möglichkeit eines Wiederaufflammens erkennen, insbesondere wenn man bedenkt, dass sie sogar in Italien zu Ende geht, wo man Ihrem Land, der Führungsnation, in allem mindestens zehn Jahre hinterherhinkt.« Zur Untermauerung dieser These schob ich eine weitere lange, in alle Einzelheiten gehende Zwischenbemerkung über die Geschichte der italienischen Rockgruppen ein. Ich zitierte die Geburtsdaten der einzelnen Mitglieder und die einschlägigen Alben der wichtigsten Bands, die seinerzeit den typischen amerikanischen Sound vom Ende der sechziger Jahre kopierten -
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