Fesseln der Erinnerung
und zog sich gleichzeitig einen Stuhl heran. „Es war die Kellnerin.“
„Wenn eine Frau einem unbekannten Mann ihre Telefonnummer gibt“, sagte Sophia und versuchte, sich nicht dadurch ablenken zu lassen, dass Max mit seiner Ausstrahlung so nahe war, dass sie ihn hätte berühren können. „Dann tut sie das aus sehr privaten Gründen.“ Genau wie die Frau im Fahrstuhl. „Frauen scheinen dir ja regelmäßig ihre Visitenkarte zu geben.“
Max öffnete einen Karton und legte mit Einweg-Essstäbchen Sushi auf einen Teller. „Stört dich das, Sophie?“ Mit tiefer Stimmer und einem Lächeln, bei dem ihr die Haut urplötzlich zu eng wurde.
Zu spät fiel ihr ein, dass Max Shannon ein Polizist war, der gewohnt war, nachzubohren, zwischen Wahrheit und Lügen zu unterscheiden. Schnell öffnete sie den zweiten Karton. „Was ist das?“
„Tempura.“ Max legte ihr etwas auf den Teller, das wie eine misshandelte Garnele aussah, seine Stimme hatte einen deutlich amüsierten Unterton. „Probier mal. Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet.“
Sie hatte bereits die Handschuhe ausgezogen und sich die Hände gewaschen und griff nun nach einem Sushi. „Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass Frauen … “ Sie schwieg, der richtige Begriff wollte ihr einfach nicht einfallen.
„Mich anmachen.“
„Ja. Ich sollte mich daran gewöhnen, dass Frauen dich anmachen“, sagte sie. „Schließlich bist du ein schöner Mann.“
Max’ Wangen färbten sich rot. „Wenn wir alleine sind, kannst du das sagen – und nur dann. Aber nicht vor anderen. Hast du mich verstanden?“
Dieser entwaffnende Anflug von Scham faszinierte sie dermaßen, dass sie ein Bedürfnis äußerte, dessen Ablehnung vernichtend gewesen wäre. „Ich würde es vorziehen, wenn du auf solche Avancen nicht eingehst, während wir … “
Er sah ihr in die Augen. Sein Blick war so ausschließlich auf sie gerichtet, als hätte ein Adler sie ins Visier genommen. „Während wir was?“, fragte er, als sie zögerte.
Jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Er wusste Bescheid über das Andere in ihr, die kalte Gerechtigkeit, die sie jenen widerfahren ließ, die den Verletzlichsten Schaden zugefügt hatten, und er hatte sich dennoch nicht abgewandt. Noch wagte sie nicht, nach dem Grund zu fragen, aber die Tatsache allein verlieh ihr den Mut, jetzt weiterzusprechen. „Während wir einander kennenlernen.“
„Einander kennenlernen“, wiederholte Max, als wäge er jedes Wort ab. „Wirst du das denn zulassen, Sophie?“
„Ja.“ Etwas in ihr rührte sich, ein dunkler … einsamer Teil. Vollkommen einsam. „Ich will dir ganz nah sein, Max.“ Nie war es ihr schwerer gefallen, etwas auszusprechen – es fühlte sich an, als risse sie ihr Herz heraus und legte es ihm zu Füßen … und hoffte, hoffte nur, dass er es nicht zertreten würde.
Max schwieg lange. Als er endlich etwas sagte, schien seine Stimme noch eine Oktave tiefer gerutscht zu sein. „Weißt du denn, worum du mich bittest und was ich von dir verlangen werde?“
Die feinen Haare auf ihren Unterarmen richteten sich auf. „Ja.“
Max griff nach einem Stück Tempura, legte es aber nicht auf ihren Teller, sondern hielt es ihr vor die Lippen. Sein Blick forderte sie heraus. Und Sophia spürte, wie ihre Ängstlichkeit einer Welle von Entschlossenheit wich – Detective Max Shannon würde sie nicht so leicht verunsichern. Sie öffnete den Mund und biss ab. Er aß die andere Hälfte – was schockierend intim war – und sah sie dann wieder an. Sah auf ihren Mund. „Werden sich deine Erfahrungen nicht im Medialnet verbreiten?“
„Das Risiko besteht“, gab Sophia zu, ihre Lippen waren ganz trocken, ihre Kehle wie zugeschnürt. „Doch meine Schilde im Medialnet sind wie bei allen anderen J-Medialen hermetisch abgeschottet, das Risiko ist also überschaubar. Selbst bei einem Leck würden Unregelmäßigkeiten meiner Dysfunktion als J-Mediale zugeschrieben werden, und nicht etwa einem Brechen von Silentium.“
Er presste die Lippen zusammen. „Und wenn diese Unregelmäßigkeiten ein bestimmtes Ausmaß überschreiten, wirst du abgeholt und wieder auf Kurs gebracht.“
„Rekonditioniert“, korrigierte sie ihn automatisch. Ein Teil von ihr wollte ihm die Wahrheit sagen – dass es keine Rekonditionierung mehr geben würde und ihre Beziehung das Ende noch beschleunigte … und dass sie lieber auf der Flucht getötet werden wollte, als ihrer Persönlichkeit und ihrer Erinnerungen
Weitere Kostenlose Bücher