Fesseln der Sehnsucht
anderen Damen zu sehen!«
»Wie du wünschst«, meinte er mit einer Weichheit in der Stimme, die sie frösteln machte. Mit diesen Worten drehte er sich um und verließ das Zimmer.
Lucy schrie ihm in hilfloser Wut nach: »Du kannst mich nicht zwingen, von hier fortzugehen! Und wenn du es dennoch tust, verlasse ich dich und komme nie wieder zurück!«
Sie hörte nur seine knappen Schritte auf der Treppe, als er nach oben ins Schlafzimmer ging. Lucy sank erschöpft auf den Stuhl, starrte trübsinnig auf das schmutzige Geschirr auf dem Tisch und grübelte darüber nach, wieso ihr einst unbeschwertes Leben so völlig aus den Fugen geraten war. War es ihre Schuld – hatte sie etwas so Schreckliches verbrochen? Hatte sie es verdient, dass Daniel sich von ihr abgewendet hatte und ein hassenswerter Fremder an seine Stelle getreten war?
Vielleicht verlässt Heath mich, dachte sie dumpf. Die gegenwärtige Situation war für beide nicht länger zu ertragen.
Vielleicht würde er bald zu der Einsicht kommen, dass er hier nicht länger leben und in den Süden zurückkehren wollte, wo er hingehörte. Welche Ironie, dass dieser Gedanke ihr keineswegs tröstlich erschien, sondern eine hohle Leere in ihr hinterließ.
Wieso verstand sie die Welt nicht mehr?
Der Süden und die Sezession. Lucy kaufte das Buch heimlich, das Heath geschrieben hatte, als tue sie etwas Verbotenes. Sie zog sich damit ins Schlafzimmer zurück und begann zu lesen, in der stillen Hoffnung, etwas über den Mann zu erfahren, den sie geheiratet hatte. Das Buch handelte vom Schicksal eines Regiments aus Virginia während der Kriegswirren und war in lakonischer Schlichtheit geschrieben. Einige Passagen lasen sich wie eilig hingekritzelte Tagebucheintragungen, andere dagegen waren literarisch verfasste Prosa.
Allmählich zog die Geschichte sie in ihren Bann und Lucy glaubte einiges über Heath’ Charakter zwischen den Zeilen zu lesen. Es gab humorvolle Anekdoten und anrührende, gelegentlich skurrile Schilderungen. Es gab in sich geschlossene Geschichten, die so dunkel und persönlich anmuteten, dass sie über die Freizügigkeit seiner Gedanken in Verlegenheit geriet. Je mehr sie sich in die Lektüre vertiefte, desto schwieriger erschien es ihr, sich ein klares Bild von Heath zu verschaffen. Die Männer, die sie kannte – Daniel und David Fraser, die Burschen, mit denen sie die Schulbank gedrückt hatte, die höflich schüchternen jungen Herren, mit denen sie bei Tanzveranstaltungen ins Gespräch gekommen war – all diese Männer schienen ihr unkompliziert und durchschaubar. Männer, die gerne mit hübschen Mädchen flirteten. Männer, die unter sich gern vom Krieg redeten und sich in Positur warfen. Sie allen waren leicht zu umschmeicheln und um den Finger zu wickeln. Die meisten konnten weinende Frauen nicht ertragen und keiner konnte das frostige Schweigen einer Frau verkraften, deren Missfallen er erweckt hatte.
Heath war völlig anders als diese Männer. Er lachte sie aus, wenn sie wütend auf ihn war, oder hatte Spaß daran, sie nur noch mehr zu provozieren. Ihr Schmollen störte ihn nicht im Geringsten und selbst wenn er nach außen entspannt und träge wirkte, lauerte unter seiner gleichmütigen Fassade ein beißender Sarkasmus. Irgendwo musste es einen Schlüssel geben, um sein Wesen zu ergründen, etwas, mit dem sie die Fähigkeit erlangte, im Umgang mit ihm die Oberhand zu gewinnen. Sie hätte hebend gern gewusst, womit sie ihn in Verlegenheit bringen könnte, wie ihm das so mühelos mit ihr gelang. Sie hätte einen Arm geopfert, nur um zu wissen, wie sie ihn in einem Streitgespräch besiegen könnte. Doch der Versuch, in seine Seele zu blicken, glich dem Bemühen, durch eine Steinmauer zu schauen.
Irgendwo in diesem Buch musste etwas sein, das ihr helfen könnte, Antworten zu finden. Seite um Seite las sie in gespannter Aufmerksamkeit, nur um festzustellen, dass es ihr an Unparteilichkeit mangelte, um Zusammenhänge zu erkennen. Je mehr Kapitel sie verschlang, umso deutlicher kristallisierte sich heraus, wie seine Skrupel schwanden, seine Empfindungen sich verdüsterten. Er beschrieb die Heldentaten seiner Kriegskameraden, sprach von ihnen aber, als seien sie aufgeblasene, prahlerische Narren. Ein Kapitel war der Schilderung einer Schlacht gewidmet. Das nächste Kapitel trug den Titel: Aufzeichnungen auf Governor’s Island.
»Das Gefangenenlager«, flüsterte sie und ein Frösteln lief ihr über den Rücken. Heath hatte mit keinem Wort
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