Fesseln der Sünde
ihn zu lieben. Er hatte ihr von Indien erzählt. Sie hatte gesehen, wie sein Geist unter dem Martyrium litt.
Doch erst jetzt verstand sie wirklich die Verzweiflung, die ihn befallen hatte. Seine unmenschliche Kraft hatte diesen Moment viel zu lange hinausgezögert. Als er nun schließlich zusammenbrach, war es, als würde vor ihren Augen ein Berg in sich zusammenfallen.
Von Beginn an hatte sie an einem kindischen, makellosen Bild von ihm festgehalten. In diesem dunklen Zimmer nun zerfiel dieses Bild zu Staub. Gideon Trevithick war nicht Galahad oder Lanzelot oder Parzival. Er war kein unbesiegbarer Schutzengel, der aus dem Nichts gekommen war, um sie zu retten. Er war nicht unzerstörbar und stark und vor Schwäche gefeit.
Hilflos, leidend und schuldig hörte sie, wie sein Herz brach. Der Mann, der so sehr seine Tränen bekämpft hatte, war nur allzu menschlich. Er durfte zusammenbrechen und versagen. Er war aus zerbrechlichem Fleisch und Blut und hatte mehr gelitten, als jeder Sterblicher das sollte.
Sie schlang die Arme um ihre angezogenen Knie und starrte blind in das Feuer. Ihre wortlose Wache war alles, was sie geben konnte. Seine fürchterliche Verfassung war eine Folge dessen, was sie getan hatten, und sie war sich ihrer Schuld bewusst. Ihre Strafe bestand darin, ihm zuzuhören, wie er versuchte, sein Leid zu unterdrücken, als wäre es schändlich oder ungerechtfertigt. Sie wollte ihn so gerne bitten, sich nicht länger dagegen zu wehren, nachzugeben und den Schrecken der letzten Jahre endlich herauszulassen. Er hatte so lange und hart gekämpft und tat es immer noch. Sein tapferes Herz würde sich nicht geschlagen geben.
Langsam ging sein schlimmster Kummer vorüber. Oder zumindest die äußeren Anzeichen dafür. Er atmete wieder normal und nicht mehr in diesen stoßartigen, erstickten Zügen.
Nach einer ganzen Zeit sprach er mit belegter Stimme. »Das war dir gegenüber nicht fair.«
Sie schaute ihn nicht an, sondern ließ ihre Wange weiterhin auf ihren hochgezogenen Knien ruhen. Müdigkeit und Trauer erdrückten sie. »Ich kann es ertragen.«
Sie sprachen nicht weiter. Nach einer Weile dachte sie, er könnte eingeschlafen sein, erschöpft von seinem Schmerz. Sie schlief nicht ein. Stattdessen sah sie tränenlos in das langsam erlöschende Feuer.
Charis hatte Gideon Trevithick geliebt, seit sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Sie hatte seine Stärke, sein Ehrgefühl, seinen Verstand und seine Schönheit geliebt. Und tat es immer noch.
Doch er hatte recht damit gehabt, ihre Liebe als die Schwärmerei eines unreifen Mädchens abzutun. Diese Liebe war wie eine Pflanze aus einem Gewächshaus gewesen, grün und üppig, aber nicht in der Lage, den kalten Wind der realen Welt auszuhalten.
Die vergangene Stunde aber hatte ihre Liebe für immer verändert. Die vergangene Stunde hatte sie für immer verändert.
Die Liebe, die sie nun für Gideon empfand, war dauerhafter als Stein.
15
Der Wind, der am Nachmittag vom Meer über die Insel wehte, war so eisig, dass es selbst Gideon bemerkte. Ungewöhnlich für diese Jahreszeit, sagte der Portier im Hotel, als sie zu einem Spaziergang aufbrachen.
Gideon war sich nicht sicher, ob es richtig war, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Er könnte erkannt werden. Nach all dem, was in den letzten Tagen geschehen war, wäre er nicht in der Lage, eine weitere Menge wie die in Portsmouth abzuwehren. Darüber hinaus bestand die kleine, aber dennoch nicht unerhebliche Gefahr, Felix und Hubert könnten erfahren, dass er und Charis sich auf Jersey befanden.
Aber Gideon hielt es in den Zimmern des Hotels nicht länger aus. Die bitteren Erinnerungen an den Schmerz und die Enttäuschung der vergangenen Nacht hatten die Luft mit einer bleiernen Schwere überzogen.
Noch schlimmer aber war, dass der unbeholfene Beischlaf ein immer stärker werdendes sinnliches Bewusstsein hervorgerufen hatte. Auf so engem Raum mit Charis zusammen zu sein und gleichzeitig zu wissen, sie nicht berühren zu können, sie nie wieder zu berühren, machte ihn langsam, aber sicher wahnsinnig.
Im Laufe des Tages hatte er beobachtet, wie sein eigener Kummer sich mehr und mehr in dem blassen Gesicht seiner Frau niederschlug. Die Spannung zwischen ihnen hatte immer mehr zugenommen, bis sie nicht mehr auszuhalten war. Er hatte ihr erleichtertes Seufzen gehört, als er vorschlug hinauszugehen.
Glücklicherweise schien die Kälte die meisten Menschen davon abzuhalten, nach draußen zu gehen. Die
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