Fesseln der Sünde
läge nur ein paar Meilen entfernt, aber sie hatte das Gefühl, schon ewig zu reiten.
»Bleib bei mir.« Ihre eisigen Hände umklammerten schwerfällig die Zügel.
Das Wetter wurde noch schlimmer, und der Wind verwandelte sich in eine bösartige, tödliche Macht. Sie fragte sich, wie das tapfere kleine Pferd es schaffte, weiterzumachen.
»Ein warmer Stall wartet auf dich. Hafer. Kleiebrei. Hände, die dich striegeln. Und weiches Stroh, auf das du dich legen kannst.«
Sie wiederholte die verheißungsvollen Versprechungen immer und immer wieder. Sie wusste nicht, ob das tapfere Pferd sie hörte. Die Worte sollten ihr genauso viel Mut machen wie dem Pferd. Sie sprach weiter, bis ihre Stimme im Hals zu kratzen begann.
Die ganze Zeit war sie bemüht, an der Hoffnung festzuhalten. An der Hoffnung, dass Gideon in Sicherheit war. An der Hoffnung, Akash und Tulliver würden ihren Mann retten. An der Hoffnung, sie würde den Weg nach Hause finden. Was konnte sie noch tun, wenn die Nacht hereinbrach und sie im Moor festsaß?
Reite weiter.
Was blieb ihr anders übrig?
Vor Müdigkeit brannten ihre Muskeln wie Feuer. Ihre Arme fühlten sich wie eiserne Gewichte an. Die Kälte stahl ihr sämtliche Kraft aus den Beinen. Die Augen taten ihr von dem eisigen Sturm weh. Die Angst um Gideon baute sich in ihrem Bauch auf wie ein teuflisches, schwarzes Ungetüm.
Das Pferd strauchelte wieder und kam dieses Mal noch langsamer auf die Beine. Nachdem es seinen anfänglichen Widerwillen überwunden hatte, erwies es sich als tapferer Gefährte.
»Es ist nicht mehr weit, versprochen. Streng dich noch einmal an. Nur noch ein einziges Mal.« Ihr versagte die Stimme, und die Tränen, die sie so lange zurückgehalten hatte, stiegen ihr in die Augen. Ihre Zähne klapperten, sie konnte kaum mehr sprechen. »Weißt du, wir tun das für Gideon. Wir müssen ihn retten. Er ist so gut, und ich liebe ihn mehr als mein eigenes Leben. Und er hat viel zu viel erleiden müssen.«
Das Pferd ließ den Kopf hängen, und seine Flanken bebten vor Erschöpfung, während der Regen an ihnen herunterrann. Immer noch sprach Charis ermutigend auf das Pferd ein, während sie von seinem Rücken glitt und mit einem platschenden Geräusch auf dem regennassen Boden landete. Ihre Halbstiefel füllten sich mit eisigem Wasser. Ihre tauben Beine gaben unter ihr nach. Sie schrie laut auf und griff nach dem Steigbügel, um nicht auf den Boden zu fallen. Ihre Arme zuckten vor Schmerz, als sie sich abstützte. Ihr Herz schlug wild, und sie schnappte verzweifelt nach Atem.
»O Gideon, bitte sei am Leben«, schluchzte sie verzweifelt und vergrub ihr Gesicht in dem nassen Fell des Pferdes.
Ein paar Sekunden lang stand sie so da, und der Regen prasselte auf sie nieder. Einzelne Bilder schossen ihr durch den Kopf und verschwanden wieder. Zusammenhängendes Denken verschwamm zu grauem Nebel.
Ein einziger Gedanke blieb klar. Gideon. Sie musste Gideon retten.
Sie blinzelte, zwang ihre Augen, zu fokussieren, und ihren Verstand, wieder zu arbeiten. Gideon brauchte sie. Sie drückte ihre Knie so lange durch, bis sie auf ihnen stehen konnte. Erschöpft klammerte sie sich einen Moment lang an dem ledernen Steigbügel fest. Dann ließ sie ihn los und stand da im tosenden Sturm.
Sie könnte das. Sie könnte weitergehen.
Doch das Pferd war am Ende seiner Kräfte.
Sie presste die Worte über ihre Lippen, die sich wie festgefrorenes Eis anfühlten. »Wir sind fast zu Hause. Es ist nicht mehr weit.« Gott behüte sie, sollte sie gelogen haben.
Sie tastete nach den Zügeln und taumelte zu Fuß weiter. Das Pferd, zu müde, um sich zu widersetzen, folgte ihr brav und watete durch schmutziges Wasser, das über seine Fesseln reichte.
Schließlich zog sie den Mantel von ihren Schultern und ließ ihn neben dem Weg zu Boden gleiten. Er war nass, schwerer als Blei und bot keinen Schutz mehr. Das dachte sie, bis sie die volle Kraft des Windes spürte. Der blaue, mit Pelz besetzte Mantel aus Merinowolle hatte sie auf Jersey mollig warm gehalten. Hier inmitten eines eisig kalten, überschwemmten kornischen Moores hätte sie genauso gut nackt gehen können.
Immer noch stolperte sie weiter. Ihre Beine stachen, als würden tausend Klingen in sie hineinschneiden. Sie zitterte so sehr, dass sich ihre Muskeln vor Schmerz verkrampften. Sie spürte ihre Füße nicht mehr. In der Dunkelheit war fast nichts zu erkennen. In ihrem Kopf flüsterten Teufel ihr zu, ihr Leben in diesem Moor zu lassen, und
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