Fesseln der Sünde
bevor ihr in den Sinn gekommen war zu lügen.
»Das tut mir leid.«
Sie senkte den Blick auf ihren Schoß, wo ihre unverletzte Hand sich zu einer Faust geballt hatte. »Mein Vater ist gestorben, als ich sechzehn war. Meine Mutter starb vor drei Jahren.«
»Wie alt sind Sie jetzt?« Sie war dankbar, dass er nicht weiter auf das Thema einging. Selbst nach all den Jahren war es für sie immer noch schmerzvoll, über ihre Eltern zu sprechen.
»Zwanzig. Fast einundzwanzig.« Die Worte erinnerten sie an ihren Geburtstag am ersten März, mit dem sie ihre Volljährigkeit erlangen würde. Und Sicherheit. Sollte sie in den nächsten drei Wochen unentdeckt bleiben, könnten ihre Stiefbrüder ihr nichts mehr anhaben. Oder ihrem Vermögen. »Das waren zwei Fragen.«
Die Unterhaltung war eigenartig, prickelnd. Wie ein gefährliches Spiel. »Sie dürfen jetzt auch zwei stellen.«
»Tulliver nennt Sie Sir Gideon. Sind Sie vom König zum Ritter geschlagen worden?«
»Ja.«
Sie wartete auf weitere Ausführungen oder Geschichten über seine Heldentaten, die ihm diese Ehrung hatten zuteil werden lassen, doch er blieb stumm.
»Der Titel ist also nicht alt?«
»Doch, das auch. Und zu allem Übel bin ich auch noch Baron. Obwohl ich nicht damit gerechnet habe, den Titel zu erben.«
»Penrhyn ist also der Familiensitz?«
»Ja.«
»Warum sind Sie jetzt nicht dort?«
»Ich war in London.« Er hielt kurz inne. »Jetzt bin ich aber wieder an der Reihe. Die Reise von Carlisle nach Portsmouth dauert lange, besonders für eine Frau ohne Begleitung. Was ist der Grund dafür?«
»Eine Änderung meiner Lebensumstände.« Zumindest das war die Wahrheit.
»Ihre Tante erwartet Sie also?«
»Tante … Tante Mary sehnt sich nach Gesellschaft. Sie ist … sie ist eine reiche, unverheiratete ältere Dame.« Das kam der Wahrheit über ihre Tante in Bath ziemlich nahe, außer dass diese Georgiana hieß. Ach, wie sehr wünschte sie sich, sich an diese wundervolle Frau wenden zu können und sie um Hilfe zu bitten. Doch ihre Großtante war trotz ihres beachtlichen Vermögens gegen das Gesetz und die Schikanen der Farrells machtlos.
»Miss Mary Watson aus Portsmouth.« Lag in den Worten aus seiner tiefen Stimme, die so vollmundig klang wie ein guter Wein, etwa Skepsis?
»Ja, das stimmt.«
»Sie können uns also zu ihrem Haus führen?«
O Gott, nein. An dieses Problem hätte sie besser einmal vorher gedacht. Sie hatte Portsmouth gewählt, weil sie geglaubt hatte, einfach zu jenen Menschen gehören zu können, die sich auf der Durchreise befanden, und dadurch nicht weiter aufzufallen, so wie ein Sandkorn in einem Sturm. Doch sie war noch nie in dieser Stadt gewesen, wusste nichts über sie.
»Selbstverständlich.« Sie sprach schnell, bevor er sie weiter nach ihrer Tante ausfragen konnte. »Warum waren Sie in London?«
Täuschte sie sich, oder lag tatsächlich ein gequälter Ausdruck in seinen Augen und verfinsterte seinen Blick? »Cornwall liegt sehr abgeschieden, besonders im Winter.«
Wie kam es dann nur, dass er sonnengebräunt war? Seine Antworten verwirrten sie. Gut möglich, dass er nicht log, aber auch er war nicht ganz ehrlich. »Arbeitet Akash für Sie?«
Er lachte überrascht. Es war das erste Mal, dass sie ihn richtig lachen hörte. Sein Gesicht leuchtete auf vor Vergnügen, ihr Herz bebte und blieb zitternd in ihrer Brust stehen. Er war der atemberaubendste, bestaussehende Mann, den sie je gesehen hatte.
»Natürlich nicht. Er ist ein Freund von mir.«
»Aber …« Sie sprach nicht weiter, aus Angst, beleidigend zu werden.
»Sie sollten keine vorschnellen Urteile fällen, Miss Watson.« Er griff in seine Jackentasche und zog eine kleine, flache, silberne Flasche hervor. Sie wartete ab, dass er daraus trank, doch er reichte sie ihr. »Hier, nehmen Sie einen Schluck Brandy.«
»Ich trinke keine harten Sachen.«
»Er wird Ihnen beim Einschlafen helfen und Ihre Schmerzen lindern.«
»Das hat Akashs Behandlung schon bewirkt.«
»Wenn wir erst einmal einige Stunden unterwegs sind, wird sein Zauber nachlassen.« Während Sir Gideon ihr gut zuredete, wurde seine Stimme tief und samtig. »Trink, Sarah. Ich verspreche, es wird dir nicht schaden.«
Unwillkürlich streckte sie die Hand aus, nahm die Flasche entgegen und trank. Was alles im Bann seiner unergründlichen dunklen Augen geschah. Als der Alkohol ihr die Kehle hinunterrann, musste sie husten. Durch den abrupten Druck machten sich ihre geprellten Rippen wieder schmerzhaft
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