Fesseln der Sünde
hatte. Zuerst in Winchester und dann vor diesen widerlichen Schurken in der Gasse. Ein Schauer durchfuhr sie, als sie sich vorstellte, was in Portsmouth hätte passieren können, wäre Gideon nicht wie ein Schutzengel erschienen. Schande und Tod hatten schon um die Ecke gelauert.
Doch als ihr Blick über seine dunklen Gesichtszüge wanderte, wusste sie, dass ihr Interesse über Dankbarkeit hinausging. Und dass dieses Gefühl genauso tief und ernst war wie ihre Dankbarkeit. Er war schön, er war tapfer, er war angeschlagen, er war beängstigend klug. Und bei seinem bloßen Anblick stockte ihr der Atem.
O Gott, sie kannte ihn kaum mehr als einen Tag und schon sprudelte sie nur so über vor leichtfertigen, irrationalen Sehnsüchten. In welchem Zustand würde sie erst nach drei Wochen in seiner Gesellschaft sein?
Zumindest diente die andauernde Stille einem guten Zweck. Er stellte ihr keine weiteren Fragen, und sie musste ihm keine weiteren Lügen auftischen, die bei ihr nur ein schlechtes Gewissen hervorriefen. Das tief in ihr sitzende Misstrauen und ihre Vorsicht mahnten sie dazu, ihre Identität geheim zu halten. Obschon, wenn jemand ihre Ehrlichkeit verdiente, dann war es Sir Gideon.
Und nun war sie im Begriff, in sein Haus zu ziehen. Diese Aussicht ließ einen verbotenen Schauer der Erregung durch sie fahren. Erregung gepaart mit Sorge. Wenn bekannt werden würde, dass sie ohne Anstandsdame unter seinem Dach lebte, wäre dies ihr gesellschaftlicher Untergang. Ein weiterer nachvollziehbarer Grund, ihre wahre Identität nicht preiszugeben.
Sie schaute hinüber zu ihrem schlafenden Retter und kam nicht umhin zu denken, dass ein solcher Untergang noch nie so verführerisch ausgesehen hatte.
O Charis, du böses, böses Mädchen. Die Engel weinen um dich.
Die sich endlos im Kreis drehenden Gedanken von Charis nahmen schließlich den wiegenden Rhythmus der Kutsche an und versetzten sie in einen halbwachen Zustand. Jeder Ruck der Kutsche verschlimmerte ihre Schmerzen und erinnerte sie daran, wie weit sie davon entfernt war, von Huberts Schlägen genesen zu sein.
Den größten Teil des Tages fuhren sie durch raues Heideland. Am späten Nachmittag war Charis wach und bemerkte, wie sie zwischen zwei verwitterten Torpfosten hindurchfuhren, um die sich Efeu rankte. Wilde Löwen hielten gemeißelte Schilde aus Stein, die so alt und voller Moos waren, dass kein Detail mehr zu erkennen war. Rostige Tore, bedeckt mit verdorrtem Unkraut, das seit dem letzten Sommer nicht weggeschnitten worden war, hingen halb aus den Angeln. Kurz danach fuhren sie in einen dichten Wald hinein.
Charis rührte sich, als sie die veränderte Landschaft bemerkte, doch war sie zu müde, die Bedeutung zu erfassen. Sie streckte ihre steifen Glieder und unterdrückte ein Stöhnen, da sich ihre Verletzungen bei der Bewegung bemerkbar machten. Mit einem Seufzer, den sie nicht zurückhalten konnte, lehnte sie ihren Kopf zurück gegen den Sitz und hoffte inständig, dass sie nicht noch eine weitere Nacht reisen musste. Sie hatte von dem ewigen Geschaukel der Kutsche genug.
Sie fuhren noch ungefähr eine halbe Stunde weiter. Ineinandergewachsene Äste, die ein Dach über dem zerfurchten Weg bildeten, tauchten das Innere der Kutsche in ein dunkles Geheimnis. Sir Gideon saß unwiderstehlich präsent und ruhig in seiner Ecke, seine Beine ausgestreckt in dem Raum zwischen den Bänken, seine Arme über seiner kräftigen Brust verschränkt. Sie hatte keine Ahnung, ob er wirklich schlief oder nur so tat.
Zu ihrem großen Bedauern wusste Charis, dass sie aussah, als wäre sie durch ein Gebüsch geschleift worden. Sie hatte schon gestern wie eine Vogelscheuche ausgesehen, und dieser Tag auf Reisen hatte ihr Aussehen sicher nur noch verschlimmert. Nachdem Gideon seine Kleider gewechselt hatte, war er wieder ganz zu jener verruchten, eleganten Erscheinung geworden, die sie kannte. Selbst der Bart, der sich an seiner Kinnpartie andeutete und sie dunkler erscheinen ließ, unterstrich seine männliche Ausstrahlung und gab seinen gemeißelten Gesichtszügen eine verwegene Note. Sie schloss die Augen und befahl sich, an etwas anderes zu denken als an Sir Gideon. Ein unmöglich einzuhaltender Befehl.
Durch ihr Unbehagen und die Erschöpfung hindurch hörte Charis Tulliver rufen und merkte, wie die Kutsche plötzlich hielt. Sie öffnete benommen die Augen. Sie hatten den Wald hinter sich gelassen, und das Licht der untergehenden Sonne drang durch die Fenster.
Sie
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