Fesseln der Sünde
blieb, was er niemals haben würde.
Er wischte die schmerzende Sehnsucht, das Bedauern und die Traurigkeit beiseite. In drei Wochen würde sie nicht mehr da sein. So lange könnte er es ertragen, ganz gewiss. Er hatte ein Jahr unaussprechlicher Leiden in Rangapindhi ertragen und überlebt.
»Mir geht es gut.« Sie zögerte und biss sich auf die Lippe. »Ich würde gerne ein Bad nehmen, falls das möglich ist.«
»Das ist es bestimmt.« Gideon schaute hinüber zu Pollett, der in der Nähe wartete. »Sind die Schlafzimmer fertig?«
»Jawohl, Sir Gideon.« Der Mann stotterte jedes Mal, wenn er ihn mit seinem Titel ansprach. »Das Schlafzimmer des Hausherrn steht bereit.«
»Das ist für Miss Watson nicht angemessen«, sagte er knapp. Der Blick, den er Pollett zuwarf, machte unmissverständlich klar, dass Miss Watson nicht seine Geliebte war und es auch nie sein würde. »Haben die Dienstmädchen das chinesische Zimmer vorbereitet? Sie müssen auch Vorbereitungen für meinen Diener Tulliver treffen. Und ich erwarte einen weiteren Gast, einen indischen Kollegen, in den nächsten Tagen. Er wird das Efeuzimmer beziehen.«
Pollett verbeugte sich und sprach mit gedämpfter Stimme. »Sehr wohl, Sir Gideon.«
Gideon musste dringend aus diesem Zimmer mit seinen unzähligen unglückseligen Geistern fliehen. Er deutete Sarah mit einer Geste an, zum Ende der Halle zu gehen. »In der Zwischenzeit nehmen Miss Watson und ich den Tee in der Bibliothek ein. Wenn es deren Zustand erlaubt.«
Pollett verbeugte sich nochmals, während er an ihm vorbeiging. Als er den Kopf hob, sprach er mit sanfter Stimme und einer Ernsthaftigkeit, die Gideon zurückschrecken ließ. »Ich bin froh, dass Sie überlebt haben und nach Hause gekommen sind, mein Junge.«
»Danke«, murmelte er und wünschte sich, auch nur einen Hauch Dankbarkeit für sein Überleben in diese höllische Gegenwart zu empfinden.
Charis durchquerte an Sir Gideons Seite einen dunklen Flur und betrat einen noch dunkleren Raum. Sie atmete seit ihrer Ankunft zum ersten Mal wieder befreit durch. Gott sei Dank stand sie nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses und zog sämtliche Blicke auf sich. Sie hasste den Gedanken, die Dienerschaft könnte glauben, dass sie nichts Besseres war, als sie sich den Anschein gab.. Trotz der edlen Versuche Sir Gideons, sie davon zu überzeugen, dass sie nicht seine Geliebte war. Ihr zerschundenes Gesicht nährte nur weitere Vermutungen.
Sie wartete unsicher, während er zwei schwere blaue Samtvorhänge zur Seite riss. Staub flog durch den Raum und nahm die Luft zum Atmen. Plötzliches Licht blendete sie, sodass sie die Augen schloss. Als sie sie wieder öffnete, sah sie eine durchgehende Fensterfront, hinter der sich eine zugewucherte Terrasse zum Meer hin erstreckte.
Einen Moment lang starrte Gideon auf den prächtigen Ausblick. Charis spürte seine Traurigkeit und auch die tiefe Einsamkeit, die für einen Mann, der gerade nach Hause zurückgekehrt war, eigenartig war.
Betrübte ihn der Verlust seines Bruders und Vaters? Oder quälte ihn etwas anderes?
Sein grundsätzliches Bestreben sich abzusondern löste in ihr das Bedürfnis aus, ihn zu berühren, ihm Trost zu spenden, ihn daran zu erinnern, Teil der Menschheit zu sein. Sie grub ihre Finger in den Mantel und unterdrückte den Impuls. Die Reise hatte sie gelehrt, dass er ihre Annäherungsversuche nicht sonderlich begrüßte.
Seine Ablehnung war schmerzhaft, aber nicht ganz so sehr wie die Tatsache, Zeuge seiner grüblerischen Traurigkeit zu sein. Ein weiteres Zeichen, wie empfindsam sie auf diesen Mann reagierte, der für sie doch fast ein Fremder war. Doch es gab für sie kein Entrinnen mehr vor dem Abgrund. Der Versuch, sich zu retten, kam zu spät.
Schließlich drehte er sich um und strich sich den Staub von den Händen. Sein Gesichtsausdruck war neutral, die kurz aufgeflammte Verletzlichkeit verschwunden.
»Ich habe sie in eine Bruchbude geführt. Das tut mir leid.« Er ging zu ihr hinüber, um ihr aus dem Mantel zu helfen, und legte ihn über ein paar Sprossen der aus Mahagoni bestehenden Bibliotheksleiter. Wie alles in diesem Raum war sie mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Aber kein Schmutz der Welt konnte die beeindruckenden, mit ledergebundenen Büchern gefüllten Wände oder das aufwändig geschnitzte Mobiliar und die Stuckarbeiten verbergen. Die Bibliothek war ein wunderschöner Raum, um den sich seit Jahren nur niemand gekümmert hatte.
»Das hier kann man wohl kaum
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