Fesseln der Sünde
allein in diesem wunderschönen, vernachlässigten Raum zu sein evozierte eine vermeintliche Intimität, die sie die Lüge vergessen ließ, die sie lebte. Sie musste ihre Zunge hüten, oder sie würde ihre wahre Identität preisgeben. »In den letzten Wochen beraubten mich meine Brüder meines Dienstmädchens.«
Die Erinnerung an die kleinen Tyranneien von Felix und Hubert machte sie wütend. Als hätte die fehlende Zuwendung einer Bediensteten sie zu dem Entschluss bringen können, den widerlichen Lord Desaye zu heiraten.
Gideon schlenderte hinüber zum Tisch. Er hob den Teller mit den belegten Broten und reichte ihn ihr. »Sie werden nach der Reise hungrig sein.«
Sie stand auf und achtete nicht weiter auf ihren vor schmerzlicher Anstrengung sich aufbäumenden, misshandelten Körper. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Wenigstens etwas Vertrautes in einem Meer des Unbekannten. »Darf ich Ihnen Tee einschenken?«
»Danke.« Gideon stellte den Teller wieder hin, als Pollett das Zimmer betrat. Charis konzentrierte sich ganz auf die Teeutensilien, wobei sich ihre Gesichtsfarbe änderte, als sie sich an Polletts vorschnelle Vermutung erinnerte, sie wäre die Geliebte von Sir Gideon.
»Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sir?«
»Wir brauchen ein Feuer«, erwiderte Gideon und setzte sich in die Nähe des Tisches.
Während Pollett den Raum verließ, reichte Charis Gideon seinen Tee und einen Teller mit zwei Broten. Diese einfache Aufgabe verursachte ihrem linken Arm mehr Mühe als sonst, doch sie schaffte es. Welch kleiner Erfolg, aber er reichte aus, um ihre Geister wiederzubeleben.
Er lächelte fast unbefangen. »Aha, so ist das also, wenn man unter der Herrschaft einer Dame steht.«
Sie runzelte ihre Stirn vor Verwirrung. »Sie haben doch sicherlich schon einmal mit einer Dame Tee getrunken.«
»Noch nie alleine. Noch nie in meinem eigenen Haus.« Er nahm einen Schluck Tee, hob das dick geschnittene Brot vom Teller und biss herzhaft hinein. Welche Krankheit ihn auch gestern befallen haben mochte, sie schien vorbei.
»Was ist mit Ihrer Mutter?« Sie setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Während sie an ihrer Tasse nippte, unterdrückte sie einen Freudenseufzer. Dies war nur ein kleiner Luxus, doch einer, den sie vermisst hatte.
Sein Gesicht wurde ausdruckslos. »Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Mein Vater heiratete nicht wieder. Nachdem er bereits zwei Söhne gezeugt hatte, hielt er es nicht für notwendig, sich noch einmal unter das Ehejoch zu begeben.«
»Der frühe Tod Ihrer Mutter tut mir leid.« Hatte sie das hübsche Porzellan gekauft und die zarten, inzwischen vergilbten Stoffe ausgesucht, mit denen die Möbel bezogen waren? Der Tod war ein ständiger Begleiter seines Lebens. War es das, was sich wie ein dunkler Schatten über seine Seele legte? Plötzliche Traurigkeit schnürte ihr die Kehle zu, und der Tee verlor abrupt seinen Geschmack. »Hat dieser Haushalt überhaupt keinen weiblichen Einfluss erfahren?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Jedenfalls keinen von Damen .«
»Oh.«
Sie konnte ein Erröten nicht verhindern, obwohl ihr Herz schneller schlug, als sie sich ihn mit einer Frau vorstellte. Doch in dieser Vorstellung würde er nicht auf der anderen Seite des Tisches sitzen und Tee trinken. Er würde sie in seine Arme nehmen, sie küssen und … Sie verbannte die schamlosen Bilder aus ihrem Kopf, bevor sie eine noch größere Närrin aus sich machte, als sie ohnehin schon war. Ihr Gesicht fühlte sich an, als glühte es.
Aus dem Lächeln wurde ein Grinsen. »Ganz genau.«
Sie zwang sich, ihre Gedanken wieder zurück in die Wirklichkeit zu katapultieren, und schaute sich in dem Raum um. Alles nur, um seinem wissenden Blick auszuweichen. Und nun bemerkte auch sie, dass dem Haus eine Herrin fehlte, dass es förmlich nach einer Frau schrie, die sich darum kümmerte und ihm den Glanz seiner früheren Pracht zurückbrachte.
Vielleicht war Sir Gideons Unbeholfenheit mit ihr auf das frühe Fehlen weiblichen Einflusses zurückzuführen. Obwohl es ihr nicht so vorkam, als wäre er von Natur aus schüchtern. Wieder fragte sie sich, ob er sie nicht mochte. Bei dieser Vorstellung zog sich ihr Magen unweigerlich zusammen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als die Anerkennung von Sir Gideon.
Bestimmt mochte er sie wenigstens ein bisschen. Sein Verhalten war zuweilen fast vertraut, wie gerade jetzt. Auf jeden Fall vertrauter, als das all der anderen Herren, an die sie sich erinnern konnte. Jedes Mal,
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