Fesseln der Sünde
Du ekelst dich vor mir.«
»Nein!« Seinen Kopf in ihre Richtung zu drehen war noch schwieriger, als eine Flut zurückzuhalten.
Zum ersten Mal war sein Blick klar und deutlich. Sie sah ausgezehrt aus. Stille Tränen liefen über ihre bleichen Wangen und schimmerten in dem diffusen, goldenen Licht.
Er wollte ihr so viel sagen, ihr alles erzählen. Erklären, entschuldigen, besänftigen, trösten.
Nichts davon würde helfen. Nichts davon würde ihn in einen Mann verwandeln, der ihrer würdig wäre.
So sagte er das Einzige, was er sagen konnte. »Nein.«
»Dann sag mir, warum …« Sie machte eine hilflose, zittrige Geste.
»Sarah …«
Das Donnern in seinen Ohren wurde lauter. Er schloss die Augen und betete, die richtigen Worte zu finden, obwohl er wusste, dass es sie nicht gab.
Dann bemerkte er, dass er sich das Donnern nicht ganz einbildete. Jemand polterte tatsächlich die Treppe zum Dachboden herauf. Jemand, der schwer war und Stiefel trug.
»Sir Gideon!«
»Tulliver?« Der Eindringling schien wie aus einer anderen Welt zu kommen.
Der normalerweise gelassene Tulliver erreichte den Treppenabsatz und stand keuchend vor ihnen. »Fremde reiten gerade die Auffahrt hoch. Der örtliche Richter ist bei ihnen.«
9
»Was zum Teufel ist aus den Männern geworden, die die Straße beobachten sollten?«, pfiff Gideon Tulliver an.
Charis zuckte bei Gideons Zorn zusammen, begriff dann aber, was Tulliver gerade gesagt hatte. Ihr ganzer Körper verkrampfte sich vor Furcht. Ihre Stiefbrüder hatten sie gefunden, denn wer sonst würde Penrhyn in Begleitung eines Richters einen Besuch abstatten? Sie wappnete sich, zu fliehen. Doch wohin?
O Gott, konnte dieser scheußliche Tag etwa noch schlimmer werden? Angst, Demütigung und enttäuschtes Verlangen vermischten sich in ihrem Bauch zu einem widerlichen Gebräu. Verzweiflung - schwer, zähflüssig, schwarz und dick wie Teer - drang in ihre Seele.
»Sie haben uns umgehend gewarnt.»Sie wusste, dass Tulliver ihre Tränen bemerkt hatte, dank seiner üblichen Zurückhaltung richtete er nach einem ersten Blick auf sie seine Aufmerksamkeit aber wieder auf Gideon. »Doch niemand konnte sie oder das Mädchen finden. Wir haben sie überall vergeblich gesucht.«
»Verflucht«, sagte Gideon und holte Luft. »Es tut mir leid, Tulliver. Ich hätte jemandem sagen sollen, wo ich war. Diese Katastrophe ist mein verdammter Fehler.«
»Was gedenken Sie zu tun?« Tulliver war wieder ganz er selbst, unerschütterlich und ruhig.
Gideon richtete sich auf und schaute seinen Gefolgsmann mit einem Grinsen an, das Charis an Black Jack erinnerte. Genau so musste dieser waghalsige Freibeuter die Galeone bezwungen haben, auf der sein Schicksal mitfuhr. Es schien, als hätte es den zitternden, verzweifelten Mann von vor wenigen Augenblicken nie gegeben.
Black Jack hatte gesiegt, Gideon würde es auch.
Ihr Mut kehrte zurück und stärkte ihr den Rücken. Auch wenn Gideon sie abwies, ihr Glaube an ihn war ungebrochen. Er war ihr Parsifal, ihr Galahad, ihr Lanzelot. Seit dem ersten Moment ihrer Begegnung war er ihr Schutzwall gewesen. Nach allem, was sie miteinander durchgestanden hatten, würde er sie nicht ihren Stiefbrüdern ausliefern.
»Na, sie sind Ehrenmänner, und als solche werde ich sie empfangen.«
Er wandte sich an Charis, und ihr fiel sofort der fragende, prüfende Blick auf, den er ihr zuwarf, so als wollte er sich ihres Mutes vergewissern.
Sie hob das Kinn und schaute ihm geradewegs in die Augen. Sie war zu Tode verängstigt, aber nicht bereit, sich der Angst zu beugen. »Dann ab mit ihnen in die Jauchegrube.«
Gideon brach in ein merkwürdig fröhliches Lachen aus. Sie konnte das Funkeln in seinen Augen nur als Bewunderung interpretieren. »So ist’s richtig, mein Mädchen.«
Er wartete, bis sie ihren Schuh angezogen hatte, blies dann die Kerzen aus und deutete mit der Hand zur Treppe. Es tat ihr in der Seele weh, dass er es immer noch nicht ertragen konnte, sie zu berühren. Und nach ihren heutigen Eskapaden würde er es wahrscheinlich auch nie wieder tun.
O Charis, es gibt Wichtigeres, als dir den Kopf darüber zu zerbrechen, dass du einen Narren aus dir gemacht hast.
Gideon nahm die Laterne und folgte ihr die Treppen und die Galerie hinunter. Er drückte auf ein unscheinbares Stuckelement an der Wand neben dem Kamin.
»Meine Güte«, sagte Charis schwer atmend, während ein geheimer Riegel aufschnappte, und was wie eine unschuldige Wandvertäfelung aussah, entpuppte
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