Fesseln der Unvergaenglichkeit
nicht verlassen, ohne Aiyana noch ein Mal zu sehen. Sie schien glücklich zu sein, wenn sie tanzte und das allein zählte.
Leonardo setzte sich neben Iwan. Der erleuchtete Saal wurde durch ein erregtes Summen der Stimmen beherrscht. Die meisten Zuschauer schienen das Ballett zu kennen und zu wissen, dass gleich der dramatische Höhepunkt kommen würde. Der Vorhang ging auf. Aiyana stand in einem weißen Tüllkleid vor ihm, im grünen, düsteren Licht des Waldes. Sie schwebte über die Bühne und ihre Seele umhüllte sie wie ein lichtdurchfluteter Mantel. Sie stellte sich schützend vor Albrecht und kämpfte bis zum Morgengrauen um sein Leben. Leonardo folgte jeder ihrer Bewegungen. Ihre Gefühle trafen ihn und er konnte sich gegen den Schmerz, den sie empfand, nicht wehren. Verzweifelt bäumte sie sich dagegen auf, dass ihre Liebe ihr genommen wurde. Er fühlte mit ihr und wäre am liebsten auf die Bühne gesprungen, um sie in seine Arme zu nehmen. Er ertrug es nicht, sie leiden zu sehen, ahnte, dass die Qualen, die sie darstellte, auch in ihrem Inneren tobten. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen. Seine Gefühle für Aiyana hatten sich nicht verändert, seine Sehnsucht nach ihr würde ihn nie mehr loslassen.
»Aiyana tanzt ohne Anstrengung, das gefällt mir«, flüsterte ihm Iwan ins Ohr. Leonardo erschrak. Er hatte ihn vergessen und für einen Moment geglaubt, Aiyana tanze nur für ihn. Leonardo sah entsetzt auf die Bühne, als das Ballett zu Ende war. Er musste Aiyana noch einmal sehen. Sie kam zurück und verbeugte sich, indem sie grazil ihre Füße kreuzte. Die geschmeidige Bewegung wühlte Leonardo auf. Aiyana verneigte sich, als ob ihr Körper nur aus den durchlässigen Lichtspielen ihrer Seele bestehen würde.
Sobald der Vorhang sich schloss, sprang Iwan von seinem Sitz auf. »Kommst du mit? Ich muss Angelina beim Bühnenausgang abholen.«
»Nein, ich werde im Verborgenen überprüfen, ob Aiyana ein Taxi findet. Dann renne ich zu Moiras Gebäude, damit ich ihre Ankunft überwachen kann und sicher weiß, dass sie unbeschadet bei Moira ankommt.«
Leonardo verabschiedete sich draußen von Iwan und suchte nach einem geeigneten Versteck, von wo er den Bühneneingang überwachen konnte. Nachdem Aiyana mit dem Taxi abgefahren war, rannte er los.
Leonardo beobachtete den Eingang des Gebäudes, in dem Moira wohnte. Die Leuchtreklamen warfen farbige Schatten auf die Straße. Die Sirenen der Notfallwagen durchschnitten das Brummen der Autos, die in einem ununterbrochenen Strom vorbeifuhren. Moira wohnte im zwanzigsten Stockwerk und eine Todeszelle musste an ihm vorbei, um zu seinem Opfer zu gelangen. Diese Vampire benahmen sich wie gierige Geier, die nur das Ziel hatten, zu ihrer Beute vorzudringen. Leonardos Wut stachelte ihn an. Dieser Arzt würde es nicht schaffen, Moira verwandeln zu lassen.
W ie erwartet hielt das Taxi, in dem Aiyana saß, vor dem Gebäude. Aus den Augenwinkeln sah er sie aussteigen. Er bewegte sich langsam, um zwischen den Passanten nicht aufzufallen und versteckte sich hinter einem geparkten Auto. Sie trug eine große Tasche, betrat das Gebäude und verschwand.
Leonardo atmete auf und verließ seinen Standort. Er stellte sich so hin, dass er den Eingang überblicken konnte.
Die nächste Stunde verstrich ereignislos. Der vorbeirauschende Straßenlärm brach nicht ab. Zwei Männer betraten das Gebäude. Leonardo stutzte. Er erkannte sofort, dass der eine ein Vampir war. Erst als der Eingang sie verschluckt hatte, begriff er, dass der Vampir den Menschen als Tarnung missbraucht hatte, um unauffällig in das Gebäude zu gelangen. Er stürzte hinterher bis zum Aufzug. Der Mann hatte sich in Luft aufgelöst. Leonardo nahm die Nottreppe. Die grauen Betonwände rasten an ihm vorbei. Seine Füße berührten kaum den Boden. Die Stockwerke sahen alle gleich aus. Die schmalen Fenster warfen ein spärliches Licht auf die Treppe, aber er hätte seinen Weg auch im Dunkeln gefunden. Niemand begegnete ihm. Leonardo zählte ungeduldig die Etagen. Jemand schrie, es schien aus dem zwanzigsten Stockwerk zu kommen. Sobald er im Gang stand, sah er, dass die Tür zu Moiras Appartement offen war. Mit einem Satz stand er im Wohnzimmer. Ein rothaariger Mann sah ihn erschrocken an. Er presste Moira gegen die Rückseite des Sofas. Aiyana lag am Boden und rührte sich nicht. Leonardo sprang den Mann an und riss ihn von Moiras Hals weg. Der Mann schmetterte ihm seine rechte Faust ins Gesicht und fluchte auf
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