Fesseln des Herzens
ihr ein paar Beeren mit, die er unterwegs gesammelt hatte.
»Gibt es Neuigkeiten?«, fragte Aimee.
»John sagte, gestern sei ein großer grauer Wolf bei der Herde aufgetaucht. Er hat den Schafen aber nichts getan und ist verschwunden, als die Hunde begonnen haben, ihn anzubellen. Wie es sich angehört hat, muss es sich um denselben Wolf gehandelt haben, der sich auch dem Baron entgegenstellte.«
Aimee lächelte schwach. »Offenbar sind Menschen immer noch gefährlicher als Wölfe. Der Graupelz hatte immerhin den Mut, sich seinem Jäger offen zu zeigen. Der Mann, der den Baron niedergeschossen hat, ist lieber in seinem Versteck geblieben.«
St. James betrachtete sie daraufhin lange, dann legte er ihr eine Hand auf die Schulter.
»Wir werden den Kerl finden. Unsere Leute werden die gesamte Baronie absuchen, und wenn es sein muss, auch über die Grenze gehen. Früher oder später wird der Schütze seine gerechte Strafe erhalten.«
Aimee nickte.
Als der Abend hereinbrach, war der Baron noch immer nicht zu sich gekommen. Die Schäferin wechselte noch einmal die kühlenden Umschläge und versuchte, ihm etwas Kräutersud einzuflößen, doch Letzteres wollte ihr nicht gelingen.
Nicolas war bereits eingeschlafen, als sich Aimee schließlich in der Nacht von ihrem Schemel erhob und einen prüfenden Blick auf den Baron warf. Der Schweiß lief ihm in Strömen von den Schläfen, und ab und zu gab er ein leises Stöhnen von sich. Seine Stirn war noch immer warm, auf den ersten Blick gab es also keine Anzeichen dafür, dass sich sein Zustand besserte.
Aimee überlegte, ob sie noch einmal die Wunde überprüfen sollte, aber wahrscheinlich sah auch sie noch nicht anders aus. Ihre Kräuter vermochten einiges auszurichten, Wunder dagegen waren höheren Wesen vorbehalten.
Sie entschloss sich, kurz an die frische Luft zu gehen, vielleicht hinunter zum See, um ihre Sinne zu klären. Die Müdigkeit gewann mehr und mehr die Oberhand, doch sie musste wach bleiben, um dem Baron zu helfen, wenn es nötig war.
Grillenzirpen hüllte sie ein, als sie vor die Tür des Turms trat. Ein paar Nachtfalter schwirrten brummend an ihr vorüber. Ringsherum war es so still, dass sie die Geräusche der nächtlichen Jäger wahrnehmen konnte.
Am Ufer des Sees angekommen, kniete Aimee nieder, schöpfte etwas Wasser in die Hände und wusch sich das Gesicht. Das kühle Nass erfrischte sie und vertrieb für einen Augenblick die Müdigkeit, die ihre Glieder schwer werden ließ. Als sich das Wasser wieder beruhigt hatte, betrachtete sich die Schäferin.
Obwohl sie wusste, dass eine rote Strähne in ihrem Haar erst erschien, wenn jemand, den sie liebte, bereits gestorben war, suchte sie ihre blonden Locken nach einem Anzeichen bevorstehenden Leides ab.
Das Mondlicht war schwach, dennoch konnte Aimee erkennen, dass sich nichts verändert hatte. Sie hatte nicht die Fähigkeit, Dinge vorherzusehen, wie es ihr die Leute nachsagten. Sie reagierte nur in besonderer Weise auf Leid.
Daran, dass sich eine ihrer Strähnen färben würde, wenn Ravencroft starb, glaubte sie fest. In ihrem Herzen war die Liebe zu ihm aufgebrochen wie eine zarte Rosenblüte, und mittlerweile war sie stärker, als sie je zu einem ihrer Familienmitglieder gewesen war.
»Aimee!«, ertönte plötzlich eine Stimme.
Schlagartig zog sich das Herz der Schäferin zusammen. Sie schnellte in die Höhe und wirbelte herum.
St. James stand nicht weit von ihr entfernt und winkte. Bevor sie ihn fragen konnte, was geschehen war, wandte er sich um und lief wieder zurück. Die Schäferin folgte ihm.
Ihr Herz flatterte wie eine ängstliche Taube. In diesem Augenblick wagte sie nicht einmal, daran zu denken, was alles passiert sein könnte, aus Furcht, dass es dann tatsächlich eintreten würde.
»Was ist denn?«, fragte sie, als sie den Soldaten eingeholt hatte.
Er antwortete nicht und sperrte stattdessen die Tür des Turms auf. Aimee erklomm die Wendeltreppe und erreichte ihren Wohnraum.
Der Baron lag noch immer auf der Bahre, und sein Gesicht war nach wie vor blass.
Die Schäferin zwang sich zur Ruhe, obwohl sie am liebsten panisch aufgeschluchzt hätte. Doch als sie neben ihn trat, traf sie sein Blick. Er war erwacht!
»Wo bin ich?«, fragte er.
Diesmal war es die Freude, die Aimee die Stimme verschlug. Auf einmal konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten.
»Ihr seid bei mir, Mylord«, antwortete sie schluchzend.
»Aimee«, entgegnete er und streckte eine Hand nach ihr aus.
Als sie
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