Fesseln des Herzens
der Jagd gekommen. Der Morgen war klar und von Vogelgezwitscher erfüllt. Am Horizont schob sich die Sonne aus ihrem Wolkenbett, und es dauerte nicht lange, bis das Gebell von Wolfshunden über den Burghof hallte. Angestachelt vom Hunger, der in ihnen wütete, und der Gewissheit, dass sie endlich wieder zur Jagd aufbrechen würden, zerrten sie an ihren Ketten, und der Jagdmeister und seine Gehilfen hatten alle Mühe, die Tiere zu bändigen.
Aimee war schon seit Stunden auf den Beinen. Sie freute sich auf den Ritt, gleichzeitig überkam sie aber auch die Sorge. Wölfe konnten gefährlich sein, auch für Männer, die auf ihren Rössern saßen. Für den Anlass erschien es ihr passend, auf ih-re Gewänder, die sie in der Burg trug, zu verzichten und das Schäferkleid anzulegen. Damit konnte sie sich bestens bewegen und saß sicher im Sattel.
Nachdem sie sich angekleidet hatte, trat sie ans Fenster der Kemenate und beobachtete das Treiben auf dem Hof.
Der Jagdmeister des Barons hielt seine Gehilfen gerade dazu an, den Hunden ihre nietenbewehrten Schutzhalsbänder anzulegen, damit die Wölfe sie nicht ins Genick beißen konnten. Pferde wurden aus dem Stall geführt und gesattelt, Armbrüste und Bögen herangeschleppt.
Von der eigentlichen Jagdgesellschaft war noch nichts zu sehen, doch die Bediensteten und Stalljungen wimmelten schon zahlreich über das Pflaster.
Aimee dachte wieder an den Gerichtstag.
Am vergangenen Freitag hatte er hier auf dem Hof stattgefunden. Die Bauern hatten dabei Gelegenheit, ihre Streitigkeiten vor ihren Lehnsherrn zu bringen.
Die Schäferin war zuvor noch nie bei solch einem Ereignis zugegen gewesen, denn gottlob hatte es nie etwas gegeben, das zwischen ihr und den Menschen im Dorf geschlichtet werden musste.
Umso erstaunter war sie, worüber sich die Menschen zerkriegten oder sorgten. Der Baron hatte die Aufgabe, Streit zu schlichten, was gewiss nicht immer leicht war. Zwar konnten zum Schluss nicht alle Parteien zufrieden von dannen ziehen, doch Aimee hatte gespürt, dass Ravencroft um Gerechtigkeit bemüht war. Ihre Gefühle für ihn waren noch stärker geworden.
Ob die Baronin auch nur ahnte, was in ihr vorging, wusste sie nicht. Nicole of Ravencroft war seit einiger Zeit ständig in Gedanken versunken. Manchmal bemerkte Aimee ein abwesendes Lächeln, und in ihren Augen blitzte etwas auf, wofür sie keine Erklärung fand. Dann versank die Baronin wieder in Schwermut und schloss sich tagelang in ihrer Kemenate ein.
George of Ravencroft hingegen schien von neuem Leben erfüllt zu sein. Er verschlang Aimee mit den Augen, und es schien ihm rein gar nichts auszumachen, dass die anderen Burgbewohner seine Leidenschaft bemerkten.
Einmal hörte sie, wie die Soldaten darüber witzelten, dass der Baron vom Feuer der Liebe erfasst worden sei. Sie stellten glücklicherweise keine Vermutungen an, wem das Feuer galt, aber Aimee bildete sich ein, dass die Blicke, mit denen die Männer sie bedachten, immer anzüglicher wurden. Dem Baron gegenüber erwähnte sie das Gerede in der Burg mit keiner Silbe.
Seit ihrem Zusammentreffen im Garten herrschte eine beinahe unerträgliche Spannung zwischen ihnen, so als lauerte jeder von ihnen darauf, dass der andere den Anfang machte.
Doch keiner wagte es voranzuschreiten.
Die Gründe des Barons kannte Aimee nicht, ihr blieb nur zu vermuten, dass er seinen Hunger noch weiter schüren wollte.
Sie selbst wagte es nicht, den ersten Schritt zu tun, weil sie nach wie vor glaubte, dass es ihr nicht zustand. Wenn er sie hernahm und sie sich ihm ergab, war die Schuld, die sie auf sich lud, vielleicht nicht ganz so groß, als wenn sie ihn ermunterte.
Nun stand erst einmal die Jagd bevor, demnach würde er auch heute nicht die Gelegenheit haben, ihr wirklich nahe zu kommen – selbst wenn sie ihn begleitete. Aber vielleicht würde er heute Abend seine Beute fordern …
Bevor Aimee sich zu den Männern auf dem Hof begab, wollte sie noch einmal nach der Baronin und ihrer Tochter sehen.
Sie verließ ihre Kemenate und strebte den Gemächern der Baronin zu.
Nicole of Ravencroft stand ebenfalls am Fenster. Über ihrem Nachtgewand trug sie lediglich einen Umhang. Von Celeste und den anderen Frauen war noch nichts zu sehen.
»Guten Morgen, Mylady, verzeiht, wenn ich störe …«
Die Baronin wandte sich um, und in ihren Augen lag der Ausdruck eines Menschen, der gerade noch tief in Gedanken versunken gewesen war.
»Guten Morgen, Aimee, ist es nicht reichlich
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