Fesseln des Herzens
den Grenzstein fiel. Seit über hundert Jahren befand er sich hier, und seit über hundert Jahren standen die Grenzen zwischen den Ländereien fest.
Es hieß, dass dieses Land einst keltischen Herrschern gehörte, die mit ihrer Tapferkeit sogar den römischen Invasoren die Stirn geboten hatten. Aus diesen Herrschern waren unter anderem die Familien Ravencroft und Woodward hervorgegangen. Es hieß auch, dass diese beiden Familien früher Seite an Seite gekämpft hatten, als die Normannen das Land überfielen.
Doch etwas, um das wohl nicht einmal mehr die jetzigen Nachkommen der Familie wussten, hatte die einstigen Verbündeten entzweit.
Vielleicht eine Frau?, fragte sich Henry, denn er wusste nun zu gut, wie ein Weib zwei Männer, die sich einst verbunden waren, entzweien konnte.
Doch diese Zeiten waren vergangen, und kaum jemand erinnerte sich noch an die alten Geschichten.
Lautes Hufgetrappel holte Henry in die Gegenwart zurück. Er blickte in die Richtung, aus welcher der Lärm zu ihm herüberdrang, und sah einen Reiter aus den Nebelschleiern auftauchen.
Der Mann trug die Uniform von Woodwards Garde, und als er näher kam, erkannte Henry, dass es sich um Abernathy handelte.
Hoffnung keimte in ihm auf. Woodward würde sicher nicht seinen Hauptmann schicken, um ihm eine Absage zu erteilen.
Abernathys Brauner tänzelte einen Moment lang auf der Stelle, bis er schließlich zum Stehen kam. Der Hauptmann machte sich gar nicht erst die Mühe abzusitzen. Er grinste Henry breit an.
»Offenbar bist du ein größerer Verräter, als ich gedacht habe.«
»Vergeude meine Zeit nicht, Abernathy!«, forderte Fellows, denn er hatte keine Lust, sich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen.
»Oh, wirst du etwa zurückerwartet?«, spottete der Hauptmann. »Von deinem Herrn? Oder will deine Herrin dich zwischen ihren Schenkeln haben?«
Fellows’ Hand schnellte an seinen Schwertknauf. Abernathy lachte auf, als er es gewahrte.
»Offenbar hat es dich ziemlich heftig erwischt. Ich glaube nicht, dass du Ravencrofts Ehre noch verteidigen willst.«
Henry zwang sich zur Ruhe. Am liebsten hätte er sein Gegenüber aus dem Sattel geholt, aber wenn er sich auf einen Streit mit ihm einließ, würde er am Abend noch immer nicht zurück sein.
»Sag mir, was dein Herr mir mitzuteilen hat«, verlangte er, ohne auf die Worte des anderen einzugehen.
»Nun gut, ich will ja nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst. Das Weib wird sie dir früh genug machen.«
Abernathy kostete Fellows’ Ungeduld noch einen Moment aus, dann fuhr er fort: »Mein Herr ist mit der Übereinkunft einverstanden.«
Henry nahm die Nachricht mit einem Nicken hin, und gleichzeitig ging ihm wieder durch den Sinn, was Nicole gesagt hatte. Woodward könnte sein Wort jederzeit zurücknehmen … Es war ein Spiel mit dem Feuer, auf das sie sich eingelassen hatten, aber sollte es Woodward tatsächlich einfallen, sein Wort nach dem Tod des Barons zu brechen, würde er schon dafür sorgen, dass seine Leute nicht in Ravencroft einfielen.
Während des Ritts hatte Henry genügend Zeit gehabt, um nachzudenken, und das, was er sich dabei zurechtgelegt hatte, gefiel ihm sehr. »Ich habe auch etwas für den Baron. Richte ihm aus, dass bald eine Wolfsjagd stattfinden wird, und zwar in dem Wald hinter dem Grünen See.«
»Wann?«
»Drei Wochen von jetzt an. Zunächst wird der Baron den Gerichtstag abhalten, und danach soll die Jagd stattfinden. Das wäre die ideale Gelegenheit, um Ravencroft zu töten. Durch einen Bolzen aus dem Hinterhalt vielleicht.«
Abernathys Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich muss zugeben, dass ich dich unterschätzt habe.«
»Wir haben nicht die Zeit, Komplimente auszutauschen. Überbringe deinem Herrn die Nachricht, und wenn er mit dem Vorschlag einverstanden ist, möge er jemanden schicken, der die Sache erledigt.«
Abernathy nickte und zog dann sein Pferd herum.
»Wir sehen uns wieder! Treib es nicht zu schlimm derweil, du willst doch deinen Sieg auskosten!«
Bevor Henry etwas dazu sagen konnte, trieb Woodwards Mann sein Pferd mit einem Zungeschnalzen an und ritt davon.
Fellows beobachtete, wie der Reiter im Nebel verschwand, dann stieg er ebenfalls wieder in den Sattel und strebte dem Dorf zu, das er auf dem Weg hierher passiert hatte. Dort gab es sicher ein paar Burschen, die keine Skrupel hatten, den Feind ihres Herrn zu töten.
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14 . Kapitel
Spätsommer 1287
K napp drei Wochen gingen ins Land, dann war endlich der Tag
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