Fesseln des Schicksals (German Edition)
Tribünen für die Angehörigen der Offiziersanwärter aufgestellt worden, mit Kokarden und Flaggen geschmückt.
Zum Glück hatte sich kein Mitglied der Familie O’Flanagan die Mühe gemacht zu kommen. Scott stellte sich vor, wie enttäuscht und verärgert sein Vater gewesen wäre, wenn er noch dazu vor Ort erfahren hätte, dass man seinen Sohn nur wenige Stunden vor der Abschlusszeremonie von der Schule geworfen hatte.
Auf dem Platz marschierten die Offiziersanwärter in perfekter Formation in ihren Galauniformen auf. Scott spürte einen Kloß im Hals, als er sie aus der Entfernung beobachtete.
Nachdem er seine Uniform gegen die Zivilkleidung eingetauscht hatte, fühlte er sich unbehaglich. Die ganzen Jahre lang hatte er diesen Moment herbeigesehnt, und jetzt spürte er nur einen tiefen Schmerz in seiner Brust.
Vom Fenster aus verfolgte er die Zeremonie, und als er sich davon überzeugt hatte, dass Klaus und Richard ihre Offizierspatente überreicht bekommen hatten, griff er nach seinem Koffer und ging auf dem gleichen Weg fort, auf dem er vor vier Jahren gekommen war.
Niemand würde ihn vermissen, dachte Scott, als er im Begriff war, in Annapolis in die Postkutsche zu steigen. Nun, er hatte sich auch nicht besonders darum bemüht, Freunde zu gewinnen. Dennoch musste Scott sich eingestehen, dass der Aufenthalt an diesem Ort und die Monate auf dem Meer eine tiefe, bleibende Spur in ihm hinterlassen hatten.
Im Rückblick erkannte er sich in dem jungen Mann kaum wieder, der in jener kalten und dunklen Novembernacht aus der gleichen Postkutsche gestiegen war.
Er setzte gerade seinen Fuß auf die Stufe, als ihm jemand von hinten eine Hand auf die Schulter legte. «Du willst doch nicht etwa gehen, ohne dich zu verabschieden?»
Lächelnd drehte Scott sich um. Unter Millionen von Stimmen hätte er Richards immer wiedererkannt.
«Na so was, da haben wir ja die frischgebackenen Leutnants Reemick und Fritz!»
Klaus stand ein Stück hinter Richard und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Die Gesichtsfarbe und der keuchende Atem der beiden Männer verrieten, dass sie gerannt waren, obwohl ihre Lungen sich noch nicht vollständig vom Brand erholt hatten.
Als der Kutscher zur Abfahrt mahnte, wurden ihre Gesichter ernst.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte Richard sichtlich besorgt.
«Ich weiß es nicht. Es wird mir schon etwas einfallen.»
«Wirst du nach Hause fahren?»
Scott zuckte mit den Schultern.
«Glaubst du, dass dein Vater seine Drohung wahr macht?»
«Ganz bestimmt», sagte Scott und verzog den Mund zu einer Art Grinsen.
«Es tut mir leid, Scott. Ich weiß, dass Harvard sehr wichtig für dich war. Wenn du einmal etwas brauchen solltest, vergiss nicht, dass du in meinem Haus immer willkommen bist.»
«Danke, Richard. Aber wir beide wissen doch, dass deine Nachbarn mich früher oder später lynchen würden.»
Richard lächelte. Aber zu seinem größten Bedauern war ihm bewusst, dass Scott recht hatte. «Versprich mir wenigstens, dass du mich einmal besuchen wirst.»
«Das verspreche ich», sagte er und umarmte den Mann, der sein einziger Freund geworden war.
Jetzt trat auch Klaus vor. Er hatte viel zu spät gemerkt, dass er sich in Scott getäuscht hatte. Scott hatte sein Leben für ihn riskiert und, ohne zu zögern, auf das verzichtet, was er sich am meisten gewünscht hatte. Neben vielen anderen Dingen verstand Klaus nun auch, warum Richard sich nie von Scott abgewandt hatte. Im Gegensatz zu ihm selbst hatte Richard hinter der zynischen Fassade den Ehrenmann sehen können. Sein eigener Geist war von Vorurteilen und Komplexen getrübt worden. Klaus schwor bei sich, dass das nicht noch einmal geschehen würde.
Der Moment des Abschieds war gekommen. Klaus kam näher und streckte Scott die Hand hin. «Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Scott.»
Scott gab ihm eine seiner verbundenen Hände und lächelte. «Geht mir auch so, Klaus.»
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Drei Jahre später
Juni 1858
· 19 ·
S eit sie die Einladung der Reemicks für Richards Willkommensball bekommen hatten, sprach Charlotte von nichts anderem mehr.
Charlotte und Hortensia waren zu einem Kirchenkonzert unterwegs, als die Kutsche sich mit einem Rad in einem Schlagloch verkeilte. Noah, der die beiden Schwestern jetzt oft fuhr, kletterte vom Kutschbock. Er besah sich den Schaden und sagte dann entschuldigend: «Zwanzig Minuten wird es wohl dauern, bis wir weiterfahren können.»
Charlotte fluchte leise und
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