Fesseln des Schicksals (German Edition)
sie!
Wütend lehnte Charlotte nun die Hilfe ab. Sie brauchte diesen Bauerntölpel nicht, um aufzustehen. Und beim nächsten Versuch hatte sie Erfolg. Als sie erst einmal stand, bemühte sie sich würdevoll, ihren verdreckten und klatschnassen Rock abzuwischen. Ihre Frisur hatte sich in ein schlammähnliches Durcheinander verwandelt, das ihr strähnig ins Gesicht und auf die Schultern hing.
Besorgt lief Hortensia zu ihrer Schwester.
«Geht es dir gut, Charlotte?»
«Natürlich!», antwortete sie und warf dem Unbekannten, der jetzt grinsend am Ufer stand, einen wütenden Blick zu. «Wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.»
«Was? Du willst doch nicht etwa in die Kirche?»
«Und ob ich das will. Glaubst du, ich werde nach all den Jahren eine Gelegenheit verpassen, Richard zu sehen?»
«Charlotte, wir müssen nach Hause zurück. Du bist vollkommen durchnässt.»
«Nicht einmal im Traum!», rief sie und setzte sich energisch in Richtung Kutsche in Bewegung.
«Das kannst du nicht ernst meinen!»
«Natürlich meine ich das ernst.»
«Du wirst eine Lungenentzündung bekommen!»
Aber Charlotte hatte nicht die Absicht, ihren Plan aufzugeben.
«Und wie willst du erklären, dass du in diesem Aufzug auftauchst?»
«Ich werde sagen, dass wir einen Unfall hatten. Das ist sehr romantisch. Richard wird sich sicher anbieten, mich nach Hause zu bringen.»
Langsam gingen Hortensia die Argumente aus.
«Wie du willst, Charlotte, aber wenn du krank wirst, wird Mutter dir nicht erlauben, auf den Ball zu gehen. Überleg es dir gut. Ist es das wert, vielleicht nicht nach Delow zu dürfen, nur weil Richard möglicherweise zu dieser Aufführung kommt? Und willst du ihm nach so langer Zeit so unter die Augen treten?»
Charlotte blickte an sich hinab und nahm zum ersten Mal ihr verdrecktes Kleid wahr. Mit ihrer aufgelösten Frisur und dem schmutzigen Gesicht sah sie wahrscheinlich aus wie eine Verrückte.
Erleichtert stellte Hortensia fest, dass Charlotte zögerte.
«Nun, wenn es Ihnen irgendwie hilft, ich glaube auch nicht, dass Sie in diesem Aufzug irgendwo erscheinen sollten», sagte nun der Unbekannte, der ihnen folgte. Ein deutlicher Nordstaatenakzent verriet seine Herkunft.
Beschämt sah Hortensia ihn an. Für einen Moment hatte sie den Mann vollkommen vergessen.
«Ich sehe, dass Ihre Umgangsformen einiges zu wünschen übrig lassen. Da Sie ein Yankee sind, überrascht mich das allerdings wenig», warf Charlotte ihm an den Kopf.
«In Anbetracht der Dinge, die ich in dieser kurzen, aber doch sehr interessanten Zeitspanne beobachten durfte, lassen meine Umgangsformen wohl kaum mehr zu wünschen übrig als die Ihren.»
Verblüfft starrte Hortensia den Unbekannten an. Die unverschämte Art, in der er Charlotte geantwortet hatte, schien ihr selbst für einen Yankee übertrieben. Noch nie hatte sie einen so unhöflichen Menschen gesehen.
Charlotte runzelte die Stirn und kniff ihre Augen zusammen, bis nur noch zwei schmale Schlitze zu sehen waren. Hortensia hoffte inständig, dass ihre Schwester nicht irgendeine Dummheit begehen würde.
«Ich weiß nicht, ob Ihnen klar ist, dass Sie sich auf Privatbesitz befinden.»
«Davon bin ich eigentlich ausgegangen.»
«Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben. Nehmen Sie Ihr Pferd, wenn Sie denn eines besitzen, und verschwinden Sie von hier», präzisierte sie, während sie den Eindringling noch einmal ansah.
«Handelt es sich denn etwa um Ihren Privatbesitz?», fragte er unbeeindruckt lächelnd.
«Nein, aber um den Besitz von guten Freunden, und ich glaube nicht, dass es ihnen gefallen würde, wenn ein zerlumpter und schlechterzogener Yankee einfach so über ihre Ländereien spaziert.»
Der Fremde schien sich glänzend zu amüsieren. «Gehört das Land vielleicht besagtem Richard?»
Wenn Charlotte ihren Sonnenschirm nicht in der Kutsche gelassen hätte, hätte sie ihn diesem unverschämten Kerl über den Schädel gezogen, dessen war Hortensia sich sicher.
«Zufällig ist es genau so. Und im Unterschied zu Ihnen ist Mr. Reemick ein echter Gentleman.»
«Ein Gentleman!», rief der Yankee in gespieltem Erstaunen aus. «Ich hatte von dieser Spezies gehört, aber ehrlich gesagt habe ich nicht geglaubt, dass es wirklich welche gibt.»
Hinter ein paar Bäumen konnten sie jetzt die Kutsche sehen. Noah hatte am Wegesrand gewartet, und die Anwesenheit des Fremden und Charlottes Aussehen versetzten ihn sofort in Alarmbereitschaft.
«Können wir fahren?»,
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