Fesseln des Schicksals (German Edition)
ein neuer Kälteschauer sie in Versuchung führte, näher ans Feuer zu rücken. Aber die Art, wie der Sklavenhändler sie ein paar Mal angesehen hatte, brachte sie davon ab. Ihr war klar, dass sie sich von diesem Mann so fern wie möglich halten musste. Also ließ sie sich in größtmöglicher Entfernung von ihren beiden Weggenossen auf dem Boden nieder. Dann umschlang sie ihren Körper mit den Armen und hoffte, dass ihre Zähne bald aufhören würden zu klappern.
Als sie erwachte, war ihr Körper vollkommen steif, sie war hungrig und erschöpft. Brauchten Sklaven denn kein Essen?, fragte sich Charlotte, deren Magen nach einer warmen Mahlzeit verlangte. Nachdem der Sklavenhändler den Rest des Kaffees dafür verschwendet hatte, das Feuer zu löschen, hatte sie entsetzt begriffen, dass dieser Mann ihnen auf der ganzen Fahrt nichts zu essen geben würde.
Als der Karren in die Hauptstraße von Richmond einbog, war die Stadt noch nicht erwacht. Alles sah aus wie bei Charlottes letztem Besuch. Über Vivian Somersys Boutique hing die schreiend grüne Markise. Dort waren ihre und Hortensias Kleider genäht worden, seit sie denken konnte. Kurz danach kamen sie am Rudy’s vorbei, einem hübschen kleinen Kaffeehaus, in das ihre Mutter sie nach einem anstrengenden Tag voller Besorgungen oft auf eine Schokolade eingeladen hatte. Und bevor sie die Hauptstraße verließen und in Richtung Bahnhof einbogen, konnte Charlotte auch das Metallgitter erkennen, das die Schaufenster von Drew & Söhnen schützte, dem elegantesten Juwelier der Stadt. Dort hatte ihr Vater ihr vor nicht einmal einem Monat einen wertvollen Solitär gekauft. Hier war ihre Welt und lag zum Greifen nah vor ihr. Aber die Fesseln um ihre Handgelenke hatten eine Grenze errichtet, die sie nicht mehr übertreten konnte.
Zum ersten Mal wurde Charlotte sich ihrer neuen Lage richtig bewusst. Sie war niemand mehr. Von einem Tag auf den anderen war sie von einer reichen und eleganten Frau, der alle Türen offen standen, zu einer Ausgestoßenen geworden.
Als sie zum Bahnhof kamen, hätte sie schreien können. War die Welt verrückt geworden? Sie war doch dieselbe, die Frau, die von so vielen Männern bewundert wurde und deren Freunde in der besten Gesellschaft verkehrten.
Jetzt hielt der Wagen. Hunderte von Malen war Charlotte am Bahnhof von Richmond gewesen, und trotzdem waren ihr die Lastwaggons am Ende der Gleise nie aufgefallen.
«Worauf wartet ihr Faulpelze? Rein da mit euch», befahl der Sklavenhändler.
Trotz der Handeisen sprang Noah ohne Probleme auf den Boden. Schnell streckte er Charlotte seine Hände entgegen, aber sie ignorierte sie trotzig. Noch war sie nicht bereit, seine Hilfe anzunehmen. Nur unter größten Schwierigkeiten schaffte Charlotte es, vom Karren hinunterzuklettern.
«Rein da, habe ich gesagt!»
Verwirrt sah Charlotte sich um. Vor ihr befand sich nur ein Güterwaggon.
Der Händler deutete mit dem Kinn darauf. «Glaubt ihr, ich habe den ganzen Tag Zeit?»
«Da rein? Aber das ist für Vieh», protestierte Charlotte.
«Seid ihr etwa kein Vieh?»
Als er das Erschrecken in Charlottes Gesicht bemerkte, verzog der Händler seine Lippen zu einem perversen Lächeln.
«Der Prinzessin gefällt ihr neues Heim wohl nicht.»
Gerade wollte Charlotte etwas erwidern, als Noah sie mit angsterfülltem Blick darum bat, still zu sein.
Die kleinen schwarzen Pupillen dieses Unmenschen waren starr auf Charlotte geheftet. Das Gefühl von drohender Gefahr ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Zum ersten Mal in ihrem Leben biss Charlotte sich auf die Zunge und senkte den Kopf.
«Mach auf!», befahl der Händler an Noah gewandt, und Noah gehorchte sofort. Er betätigte die Klinke und öffnete die Tür.
Sofort schlug ihnen ein so fürchterlicher Gestank entgegen, dass Charlotte zurückwich. Etwa fünfzehn Sklaven drängten sich im Inneren des Wagens. Ohne zu zögern, stieg Noah hinauf und zog an Charlotte, der diesmal nichts anderes übrig blieb, als seine Hilfe anzunehmen.
«Bestimmt wird die kleine Prinzessin sich wohl fühlen», sagte der Händler mit lautem Gelächter und schlug ihr die Tür vor der Nase zu.
Der Geruch nach Urin und Schweiß war so intensiv, dass Charlotte fürchtete, sich übergeben zu müssen. Es war klar, dass diese Männer und Frauen gezwungen waren, ihre Notdurft auf dem alten Stroh zu verrichten, das den Boden bedeckte. Als sie begriff, dass auch sie das irgendwann tun müsste, fühlte sie Panik in sich aufsteigen.
«Wollen
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