Fesseln des Schicksals (German Edition)
die uns umbringen? Wir werden ersticken», rief sie und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Schnell trat Noah zu ihr und hielt ihre Hände fest.
«Fass mich nicht an, verfluchter Sklave!», fauchte sie, aber er ließ sie nicht los.
«Geben Sie sich keine Mühe, Miss Charlotte, es wird Sie keiner hören.» Er packte ihre Hände noch etwas fester. «Und selbst wenn uns jemand beachten würde, so würde Ihnen doch niemand zu Hilfe kommen. Sie sind jetzt wie wir», sagte er und deutete auf die anderen Frauen und Männer in diesem Gefängnis, die man im Halbdunkel kaum sehen konnte. «Je eher Sie sich daran gewöhnen, desto leichter werden die Dinge für Sie werden.»
«Du irrst dich. Ich werde nie so sein wie ihr», antwortete sie mit unendlicher Verachtung und wand sich aus Noahs Griff. «Und ich werde mich auch nie an so etwas gewöhnen. Das kann kein menschliches Wesen!»
Noah ließ sie in Ruhe. Es hatte ja doch keinen Sinn. Charlotte war zu stolz und zu stur, um nachzugeben.
«Wie Sie wollen, Miss Charlotte.»
Er drehte sich um und ging auf die andere Seite des Waggons. Einmal dort angekommen, setzte er sich auf das Stroh, lehnte sich an die Wand und schloss die Augen.
Zum zweiten Mal an jenem Morgen spürte Charlotte den bitteren Nachgeschmack der Worte, die ihr im Hals erstarben. Noah hatte es gewagt, ihr einfach den Rücken zuzudrehen und sie nicht weiter zu beachten. Mit aller Kraft ballte sie ihre Fäuste, um nicht vor Wut zu platzen. Erst als sie spürte, wie ihre Fingernägel sich schmerzhaft in die Handflächen bohrten, wurde sie etwas ruhiger. Sie würde sich nicht aufregen, sagte sie sich und versuchte sich wieder als Herrin der Lage zu fühlen. Denn auch wenn ihr Vater etwas anderes glaubte, war noch der letzte Blutstropfen, der durch ihre Adern floss, weiß, und sie würde sich nicht so weit herabwürdigen, hier vor diesen Sklaven herumzuschreien. Noah war zwar der Sohn ihres Vaters, aber er war immer noch ein Sklave. Und Charlotte hatte nicht die geringste Absicht, das zu vergessen.
Plötzlich spürte sie eine tiefe Erschöpfung. Die Anspannung der letzten Tage, der Hunger und die Müdigkeit hatten ihren Tribut gefordert. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Wenn sie nicht bald die Augen schloss, würde ihr der Kopf platzen. Sie musste sich beruhigen, nachdenken und eine Lösung finden, sagte sie sich und ließ sich neben einer Frau auf den Boden fallen, die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Darsy hatte.
Noch bevor sie den Rücken gegen die Holzwand gelehnt hatte, war Charlotte schon eingeschlafen.
Ihr Traum führte sie nach New Fortune, wo sie neben Hortensia schlief. Es war der Tag ihrer Hochzeit. Eine Woche vorher hatte Richard um ihre Hand angehalten, und ihr Vater war einverstanden gewesen. Die Hochzeit würde am Nachmittag auf Delow stattfinden. Eingetaucht in diese tröstliche Welt, fühlte sie, wie jemand sie sanft schüttelte.
«Noch ein bisschen länger, Mama. Bitte, ich bin so müde», murmelte sie mit geschlossenen Augen. «Lass mich noch ein wenig schlafen. Ich hatte einen schrecklichen Traum.»
«Wachen Sie auf, Miss Charlotte. Wir sind angekommen.»
Der Zug bewegte sich nicht mehr.
«Wo sind wir?», fragte Charlotte noch völlig benommen.
«In Baltimore.»
«Baltimore, Maryland! Das kann nicht sein! Wie lange habe ich geschlafen?»
«Seit wir in den Zug gebracht wurden.»
Verwirrt schwieg sie. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass all das in Wirklichkeit geschah. Vielleicht spielte ihr Kopf ihr nur einen Streich. Bevor Noah sie geweckt hatte, war sie kurz davor gewesen, Richard zu heiraten.
«Nehmen Sie.»
«Was ist das?», fragte Charlotte, die jetzt erst bemerkte, dass Noah etwas in der Hand hielt.
«Etwas zu essen. Bald werden sie uns holen kommen, und wer weiß, wann wir wieder etwas kriegen.»
Im Halbdunkel konnte Charlotte erkennen, dass Noah ihr einen Fladen Brot und eine Kelle Wasser hinhielt.
«Sie müssen wieder zu Kräften kommen», drängte er.
Bei näherem Hinsehen bemerkte Charlotte einen großen Schimmelfleck auf dem Brot. Sie drehte den Kopf weg. «Ich habe keinen Hunger.»
«Essen Sie», befahl Noah ihr. «Es wird für lange Zeit nichts Besseres geben.»
«Ich werde nicht lange Zeit hier sein.»
«Glauben Sie etwa, dass jemand kommt, um Sie zu retten?»
«Ja, meine Freunde werden mich suchen.»
«Sie haben keine Freunde mehr, Miss Charlotte. Kein weißer Herr ist der Freund eines Sklaven. Je schneller Sie das begreifen,
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