Fesseln des Schicksals (German Edition)
angestrengten Lächeln, während sie zu Noah schielte. «Wir sind doch alle erwachsene Menschen.»
«Ich fürchte, ich verstehe Sie noch immer nicht, Mrs. Russell», sagte Charlotte. Die Bösartigkeit dieser Frau erinnerte sie fast ein wenig an Laura Burton.
«Ich sagte, dass Sie sicher eine Menge Sklaven hatten.»
«Etwa hundertzehn, nicht wahr, Hortensia?»
Hortensia nickte.
Der Junge, der mit seinen Eltern gekommen war, wurde jetzt ärgerlich. «Das ist unmenschlich!», ließ er verlauten, und viele der Anwesenden nickten schweigend.
«Es ist kaum unmenschlicher, als Kinder bis zur Erschöpfung in Fabriken arbeiten zu lassen», gab Charlotte wütend zurück.
«Wenigstens sind sie frei», sagte der Junge wieder, und nur ein Blick seines Vaters hinderte ihn daran weiterzusprechen.
Josephine hingegen hatte nicht die Absicht, das Thema so schnell beizulegen.
«Sie sollten wissen, junge Dame, dass Scott, obwohl er jetzt sonderbarerweise so schweigsam ist, ein glühender Vertreter der Abolition ist.»
«Das weiß ich, Mrs. Russell.»
«Und das stört Sie nicht?»
«Keineswegs. Wahrscheinlich ist es das Einzige, worüber wir völlig einer Meinung sind.»
«Und trotzdem halten Sie Sklaven?»
«Eigentlich ist es mein Vater, der Sklaven hält.»
«Aber … der junge Mann?», fragte Josephine und deutete mit dem Kopf auf Noah.
«Meinen Sie etwa Noah?»
Josephine nickte, während die anderen Gäste gespannt auf den Ehrengast blickten.
«Noah ist nicht unser Sklave», erklärte Charlotte freundlich lächelnd. «Noah ist unser Bruder.»
Sofort entgleisten Josephines Gesichtszüge, und beinahe verschluckte sie sich an einem Stück Kuchen. Stille legte sich bleischwer über den Tisch. Charlotte musste nicht aufblicken, um zu sehen, dass alle Anwesenden mit offenem Mund dasaßen. Sogar das Klacken der Gabeln war verstummt.
Zufrieden setzte Charlotte ein engelsgleiches Lächeln auf. Elegant hob sie die Gabel mit einem weiteren Bissen Kuchen, der ihr so gut schmeckte wie schon lange nicht mehr.
«Ich gratuliere», flüsterte Scott ihr ins Ohr. «Nicht einmal ich hätte es geschafft, meine Tante derartig zu schockieren.»
Am anderen Ende des Tisches sah man auch Raymond O’Flanagan lächeln. Man musste zugeben, dass diese Frau Mut hatte.
Charlotte ließ sich von den neugierigen Blicken, die die drei so unterschiedlichen Geschwister genau studierten, nicht erschüttern. Mit geradem Rücken saß sie auf ihrem Platz, und immer wenn sie spürte, dass ein Augenpaar verstohlen auf sie gerichtet wurde, nickte sie freundlich. Auch Noah blickte stolz in die Runde, obwohl ihm die Situation etwas unangenehm war. Diskret zwinkerte Charlotte ihm zu. Nur Hortensia wagte nicht, den Kopf zu heben.
Charlotte konnte fast körperlich fühlen, wie in den Köpfen der Männer und Frauen am Tisch eine einzige Frage hämmerte. Waren diese Frauen, die sie wie Damen der Gesellschaft behandelt hatten, etwa auch schwarz?
Auch Noah schien die Gedanken ahnen zu können und beeilte sich zu erklären: «Eigentlich sind wir Halbgeschwister. Unser Vater war ein Weißer. Aber während Charlotte und Hortensia die Töchter seiner weißen Ehefrau sind, ist meine Mutter eine Sklavin.»
Charlotte runzelte die Stirn. Gern hätte sie diese Heuchler noch ein wenig schmoren lassen.
Selbst der junge Mann, der die Gleichheit von Weißen und Schwarzen gerade noch so leidenschaftlich verteidigt hatte, seufzte erleichtert, als nun kein Zweifel mehr daran bestand, dass die beiden schönen Frauen am Tisch Weiße waren. Nur Hortensia wurde das Herz schwer. Gerade erst hatte sie etwas entdeckt, das Charlotte schon lange wusste. Die Weißen brauchten das Gefühl, anders zu sein. Zwar konnten sie, wenn auch widerwillig, akzeptieren, dass ein Schwarzer weißes Blut in seinen Adern hatte, schließlich blieb er dabei immer noch ein Schwarzer. Aber die Vorstellung, dass ein Weißer, den man wie einen Gleichen behandelte und der unerkannt unter ihnen weilte, eigentlich schwarzes Blut in sich hatte, erfüllte sie mit Schrecken. Hortensia verspürte tiefe Trauer. Egal in welchem Teil dieses Landes sie sich befand, nie würde sie zu den anderen gehören.
«Ich denke, wir sollten in den Salon zurückkehren», schlug Beatriz O’Flanagan vor und erhob sich.
«Eine gute Idee, Mutter», stimmte Scott ihr zu und stand ebenfalls auf. «Miss Charlotte, würden Sie mir die Ehre erweisen, mich zu begleiten», sagte er und bot ihr seinen Arm.
«Es ist mir ein
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