Fesseln des Schicksals (German Edition)
hoben.
Josephine warf dem Unbekannten sogar einen unfreundlichen Blick zu, bevor sie sich wieder ihrer Mahlzeit zuwandte.
«Ich fürchte, ich bin mal wieder zu spät», sagte die Stimme mit einem frechen Unterton.
Charlotte hätte sich nur zu gern sofort umgedreht, aber selbst sie fand zu viel Neugierde etwas unschicklich. Deshalb hatte sie noch keinen Blick auf den Unbekannten erhaschen können, der sich nun auf den Stuhl neben ihr fallen ließ. «Danke, George», sagte er freundlich, als der Diener sofort ein Stück Fleisch auf seinen Teller legte. «Könntest du mir auch noch etwas Salat bringen?»
Sprachlos beobachtete Charlotte, dass der Mann, noch bevor er sich die Handschuhe ausgezogen hatte, die Salatschüssel in Empfang nahm, den Inhalt auf seinen Teller kippte und sie dem Diener zurückgab.
«Entschuldigt, aber ich bin wirklich hungrig», sagte er in die Runde und fing an zu essen.
In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keinen Menschen gesehen, dem es derartig an Manieren mangelte, dachte Charlotte und wollte gerade einen genaueren Blick auf ihn werfen, als sie bemerkte, dass Hortensia ganz blass geworden war. Sie sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen.
Und plötzlich fiel ihr alles wieder ein. Die Handschuhe, die unverschämte Stimme, Raymond O’Flanagans Augen, all das nahm in ihrer Erinnerung Form an. Ein kurzer Seitenblick genügte, und sie erkannte sogar den alten Anzug wieder, den er bereits in Virginia getragen hatte. Starr blickte sie vor sich auf den Teller.
«Scott», sagte Mrs. O’Flanagan und zerstreute damit auch den allerletzten Zweifel.
«Ja, Mutter?»
«Ich glaube, du kennst unsere Gäste noch nicht.»
Scott richtete sich auf und blickte auf die Frau, die neben seiner Mutter saß. Hortensia hielt den Atem an.
«Miss Hortensia Lacroix, ihre Schwester Charlotte und Noah, der junge Mann, der Peter das Leben gerettet hat.»
Ein Lächeln zeigte sich auf Scotts Gesicht.
«Was für eine Überraschung! Es ist mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen», sagte Scott und nickte Hortensia zu.
«Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite», stotterte sie.
Jetzt blickte er auf seine Tischnachbarin zur Rechten. «Miss Charlotte», begrüßte er sie mit einem frechen Grinsen und zwang sie dazu, ihn anzusehen.
«Mr. O’Flanagan», erwiderte sie kühl, entschlossen, ihn nicht anzulächeln.
Inzwischen hatten sie die Aufmerksamkeit des ganzen Tisches auf sich gelenkt. Auch Noahs Gesichtsausdruck verriet, dass er Scott wiedererkannt hatte.
«Sie kennen also meinen Sohn?», fragte Mrs. O’Flanagan.
«So ist es», antwortete Charlotte knapp.
«Ich hatte das Vergnügen, die Schwestern Pa…»
«Lacroix», fiel Charlotte ihm mit einem stechenden Blick ins Wort.
«… die Schwestern Lacroix bereits kennenzulernen», beendete Scott seinen Satz.
«Was für ein schöner Zufall», rief Scotts Mutter nun bewegt aus.
«O ja, Mutter. Auch wenn ich befürchte, dass die Damen mich nicht in besonders guter Erinnerung haben», fügte er hinzu.
«Das wundert mich überhaupt nicht», mischte sich sein Vater vom anderen Ende des Tisches ein. Josephine nickte beipflichtend.
«Nun, Vater, ich fürchte, auch deine Umgangsformen hätten der strengen Prüfung der guten Gesellschaft der Südstaaten nicht standgehalten.»
Unfreiwillig musste Josephine wieder nicken.
«Das stimmt doch, Tante?»
Bei der unerwarteten Frage ihres Neffen hörte Josephine sofort auf zu nicken. Obwohl ihre Abneigung gegenüber Raymond O’Flanagan offensichtlich war, wollte sie den Mann, der ihre Familie ernährte, trotzdem nicht beleidigen.
«Es genügt, Scott!», warf seine Mutter ein.
«Verzeihen Sie, wenn ich Sie gekränkt habe, Tante.»
Josephine antwortete mit einem säuerlichen Blick, den Scott mit einem Lächeln erwiderte.
Brian fing jetzt an von der Oper zu reden, die gerade in der Stadt uraufgeführt worden war, und Charlotte nutzte die Ruhe, um das letzte Stück Fleisch auf ihrem Teller zu essen.
«Ich sehe, dass Sie Ihren Appetit nicht verloren haben», flüsterte Scott ihr ins Ohr, als die Gabel komplett in Charlottes Mund verschwunden war.
«Und Sie haben noch immer keine Tischmanieren», gab Charlotte zurück und warf einen Blick auf die abgetragenen Lederhandschuhe.
«Das kann ich nicht leugnen, liebe Miss Lacroix. Wollen wir nicht trotzdem Frieden schließen?»
«Ich wusste gar nicht, dass wir uns im Krieg befinden.»
Josephine bemühte sich, jedes der Worte zu erhaschen, die ihr Neffe mit der von
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