Fesseln des Schicksals (German Edition)
die Straße hinuntergelaufen. Sie hielt die erste Kutsche an, die vorbeifuhr, und nach einer Fahrt von zwanzig Minuten kamen sie nach Copps Hill, dem höchsten Punkt im North End.
Charlotte gab dem Kutscher ein paar Münzen und stieg aus.
Jetzt musste sie nur noch jemanden nach der Adresse fragen, die Noah ihr genannt und die sie während der Fahrt ständig im Stillen wiederholt hatte.
Wegen der sommerlichen Hitze hatten sich die Anwohner der alten Häuser auf der Straße versammelt. Charlotte war überrascht, dass hier so viele Menschen lebten. Kinder liefen durch die Straßen, und alte Leute saßen auf Stühlen vor ihrer Haustür. Vorsichtig ging Charlotte die Straße entlang. Sie war nicht gepflastert, und Charlotte wollte nicht mit den neuen Schuhen in eine Pfütze treten. Sie konnte keine einzige Hausnummer entdecken und war sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt in der richtigen Straße gelandet war.
Als sie schon kehrtmachen wollte, erblickte sie an der nächsten Ecke einen Laden für Töpferwaren.
Zwei vollkommen durchnässte Kinder liefen an ihr vorbei, ohne sie zu beachten, und verschwanden hinter einer der Türen.
«Entschuldigen Sie», sagte Charlotte zu einem alten Mann, der in einem Stuhl döste. «Könnten Sie mir sagen, wo ich die Salem Street Nummer 6 finde?»
Der Mann lächelte freundlich, gab aber keine Antwort.
«Machen Sie sich keine Mühe», rief ihr eine Frau zu, die auf einen Besen gelehnt in einer Tür auf der anderen Straßenseite Wache zu halten schien. «Er versteht kein Wort. Er ist Pole.»
«Dann könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Salem Street 6 finde?», sagte sie zu der Frau gewandt, die jetzt mit dem Besen auf eine harmlose Ameise einschlug, die in ihren Herrschaftsbereich eindringen wollte. Dann lehnte sie sich wieder auf den Besenstiel und zeigte mit dem Daumen hinter sich.
«Das ist hier.»
Erleichtert lächelte Charlotte.
«Wissen Sie vielleicht auch, welches die Wohnung von Scott O’Flanagan ist?»
Jetzt betrachtete die Frau Charlotte von oben bis unten.
«Letzter Stock.»
«Danke», sagte Charlotte und verschwand im Inneren des Gebäudes.
Das Treppenhaus wurde nur von einer kleinen Luke im Dach beleuchtet. Als sie auf den ersten Treppenabsatz kam, sah sie nach oben. Es fehlten noch mindestens drei Stockwerke. Obwohl das Gebäude eher ärmlich wirkte, stellte Charlotte überrascht fest, wie sauber es war. Man hatte sogar die Wände gestrichen.
Im zweiten Stock musste Charlotte wieder haltmachen. Ihr Korsett war zu eng geschnürt, und ihre Lungen konnten sich nicht weit genug ausdehnen. Sie musste noch zwei Pausen einlegen, bevor sie vollkommen erschöpft an ihrem Ziel angekommen war.
Die Hitze hatte das oberste Stockwerk in einen Ofen verwandelt. Einen Moment lang hielt sie inne und trat dann vor die einzige Tür.
Die Tür stand offen. Sicher hatte Scott sie geöffnet, um die Hitze mit ein wenig Zugluft erträglicher zu machen, denn genau gegenüber der Tür war auch ein weitgeöffnetes Fenster zu sehen.
Zögernd trat Charlotte ein. Scott war nirgendwo zu entdecken. Das einzige Zimmer war zwar nicht groß, wirkte aber sauber und war mit allem ausgestattet, was man zum Leben brauchte. Ein Bett mit einem Waschtischchen daneben. Ein kleiner Kocher, um Essen warm zu machen, und ein Tisch mit zwei Stühlen, auf dem sich Papiere häuften. Charlotte bahnte sich zwischen Bücherhaufen und Aktenordnern, die überall auf dem Boden lagen, einen Weg durch den Raum. Regale gab es nicht. Auf dem Tisch stand zwischen all den Papieren ein Topf mit Veilchen.
«Meine Mutter hat sie mir geschenkt», sagte Scott hinter ihr. Sie drehte sich um und sah, wie er gerade durch das Fenster in das Zimmer zurückkletterte.
«Ich brauchte ein bisschen frische Luft», sagte er und steckte die Hände in die Taschen.
Charlotte trat zum Fenster und sah nach unten. Beinahe wurde ihr schwindelig.
«Du bist verrückt, Scott! Du hättest dich umbringen können!»
«Das glaube ich nicht. Und? Wie komme ich zu der Ehre, Charlotte?»
«Ich musste dich sehen.»
Scott sah ihr in die Augen.
«Ich muss dir etwas erzählen.»
«Das muss ja sehr wichtig sein, wenn du dafür extra hergekommen bist.»
«Das ist es», sagte sie, ohne Scotts Worten größere Beachtung zu schenken. «Brian und Hortensia werden heiraten!», rief sie fröhlich aus.
Aber wenn sie Scott damit überraschen wollte, war ihr das gründlich misslungen.
«Ich weiß. Brian hat mir erzählt, dass Hortensia
Weitere Kostenlose Bücher