Fesseln des Schicksals (German Edition)
Wusste Scott etwa, warum Richard sie verlassen hatte?
«Und ob es wichtig ist. Du weißt es», sagte sie aufs Geratewohl und machte einen Schritt auf Scott zu. «Du weißt, warum er mich nicht geheiratet hat.»
Scott senkte den Kopf.
«Sag es mir! Ich muss es wissen! Raus mit der Sprache, Scott, oder ich werde verrückt!»
Charlotte war verzweifelt.
«Er hat dich verlassen, weil er dich beschützen wollte.»
«Beschützen?»
«Ja, Charlotte.»
«Wovor beschützen?»
«Er kennt dein Geheimnis.»
«Welches Geheimnis?» Verwirrt sah Charlotte ihn an.
«Nichts.»
«Verdammt nochmal, Scott!», schrie sie. «Jetzt sag es endlich!»
«Gut. Wie du willst. Er wusste über deine Mutter Bescheid.»
«Was ist mit meiner Mutter?»
Jetzt gab es für Scott kein Zurück mehr. «Richard wusste, dass deine Mutter eine Sklavin war.»
Charlotte spürte, wie sich das Zimmer zu drehen anfing. Nur die Wut, die plötzlich in ihr aufstieg, konnte verhindern, dass sie in Ohnmacht fiel. Jetzt war ihr alles klar. Wie hatte sie so dumm sein können. Sie hätte es merken müssen!
«Anscheinend hat sein Onkel geholfen, dich zur Welt zu bringen.»
«Er glaubt, ich bin dieses Mädchen?», fragte Charlotte entgeistert.
«Ist es denn nicht so?»
Charlotte schwieg.
«Warum hat er nicht mit mir gesprochen? Ich hätte es ihm erklären können.»
«Es gab nichts zu erklären. Er wusste nicht, ob du davon etwas weißt. Als sein Onkel erfuhr, dass Richard dich heiraten wollte, hat er ihm die Wahrheit erzählt. Richard wollte dich trotzdem noch, aber sein Onkel hat ihm damit gedroht, deine wahre Identität öffentlich zu machen. Deshalb hat er Camille geheiratet, Charlotte. Richard hat sich für dich geopfert.»
«Dann hat er mich geliebt?»
«Er hat dich immer geliebt.»
«Mein Gott. Warum hat er es mir nicht gesagt? Wir hätten weglaufen können. Irgendwohin, wo uns niemand kannte.»
«Manchmal genügt es nicht zu lieben. Richard war seiner Familie verpflichtet. Er konnte nicht einfach tun und lassen, was er wollte.»
«Wenn er mich wirklich geliebt hätte …», sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
«Aber er hat dich geliebt, Charlotte. Zweifle nicht daran und vergiss es auch nicht. Die Hochzeit mit Camille war sein Opfer, um dich zu retten.»
Jetzt ließ Charlotte ihren Tränen freien Lauf. Endlich verstand sie. Richard hatte sie geliebt. Sie hatte sich nicht geirrt.
«Quäl dich doch nicht», versuchte Scott sie zu trösten, obwohl Charlotte ihn nicht näher herankommen ließ. «Man kann nichts mehr daran ändern.»
Scotts Worte drangen kaum zu ihr durch. Ihr Kopf war kurz davor zu explodieren. Sie musste hinaus. Sie musste nachdenken.
«Charlotte, bitte heirate mich. Es ist mir egal, wer deine Mutter war. Es ist mir egal, ob du eine Sklavin bist, ob du reich bist, ob du arm bist. Ich liebe dich.»
Charlotte sah ihn an. Er wartete auf eine Antwort.
Ihre Tränen waren versiegt. Charlotte spürte, wie die Enttäuschung ihr Herz hart machte.
«Es tut mir leid, Scott. Ich kann nie wieder jemanden lieben», sagte sie mit ruhiger Stimme, wandte sich zur Tür und ging.
· 31 ·
G enau wie das erste Mal, als er auf New Fortune zum Unterricht gegangen war, stand Noah vor dem Morgengrauen auf. Er frühstückte, nahm seine Mappe und verließ das Haus. Er hätte er eine Kutsche bis zur North Grove Street nehmen können, aber er zog es vor zu laufen. Er ging gern zu Fuß, und der lange Spaziergang und die frische Luft würden seine Nerven etwas beruhigen.
Nachdem er das State House hinter sich gelassen hatte, das mit seiner kupfernen Kuppel über die Stadt herrschte, begab er sich zum Massachusetts General Hospital. Die meisten Fakultäten hatten ihren Sitz im benachbarten Cambridge, aber der Unterricht in Medizin fand in einem Gebäude in Boston statt, neben dem von Bulfinch gebauten Krankenhaus.
Trotz des langen Weges war Noah zu früh dran. Er suchte seinen Hörsaal und setzte sich noch ganz allein im Raum diskret an das hinterste Pult.
Nach ein paar Minuten kamen die ersten Studenten, und nach und nach füllten sich dann die anderen Plätze. Jeder, der hineinkam, sah Noah an. Einige beachteten ihn einfach nicht weiter, aber andere zeigten ihren Unmut mit einem Kopfschütteln oder einer abwertenden Bemerkung. Noah regte sich nicht auf. Obwohl er insgeheim davon geträumt hatte, dass die Dinge sich nun verändern würden, wusste er doch, dass dem nicht so war. Als schließlich nur noch die Plätze neben
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