Fesseln des Schicksals (German Edition)
Noah frei waren, kam ein junger Mann mit wichtigem Gehabe auf ihn zu und befahl ihm mit einer Handbewegung, den Platz frei zu machen.
«Verdammter Faulpelz!», schimpfte er. «Zurück an deine Arbeit!»
Noah rührte sich nicht.
«Hast du mich nicht gehört?»
Die Studenten, die in der Nähe saßen, drehten sich um. Jetzt holte Noah die Bücher aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.
«Hier ist meine Arbeit», antwortete er, sah den Jungen fest an und erhob sich langsam.
Als Noah sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte, schien sein Gegenüber geradezu zu schrumpfen. Noah überragte ihn um einen ganzen Kopf, und sein kräftiger und muskulöser Körper luden nicht dazu ein, ihn herauszufordern.
«Im Süden würde so etwas nicht passieren», murmelte der junge Mann und schob eines der freien Pulte auf die andere Seite des Ganges.
Seine Strategie, möglichst nicht aufzufallen, war nicht aufgegangen. Denn wenn seine Anwesenheit vorher vielleicht noch einem Studenten egal gewesen war, so war das jetzt nicht mehr so. Fast fühlte Noah sich in die Unterrichtsstunden mit Mademoiselle Gassaud zurückversetzt. Nur hatte wenigstens Hortensia ihn damals immer bedingungslos unterstützt. Jetzt konnte er im ganzen Hörsaal kein einziges freundliches Gesicht entdecken.
Noah blickte stur geradeaus. Er war gekommen, um etwas zu lernen, sagte er sich und versuchte, die Verachtung der anderen jungen Männer einfach an sich abprallen zu lassen.
***
«Wie war dein erster Tag?», fragte Scott und wich einer Frau mit einem Korb voller Blumen aus, die einen großen Teil der Straße für sich in Anspruch nahm.
Noah seufzte.
«So schlimm?»
«Es ist sonderbar, aber als ich da an diesem Pult saß, fühlte ich mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich fühlte mich wie vor dieser schrecklichen Gouvernante», erinnerte er sich fast wehmütig. «Ich glaube, ich habe am ganzen Körper gezittert.»
«Das tut mir leid. Es muss hart sein, der einzige Schwarze in einem Hörsaal voller Weißer zu sein», meinte Scott. «Zum Glück lädt Ralph uns zu einem wunderbaren Abendessen ein, im besten Hotel der Stadt. Das wird die Schmerzen etwas lindern.»
«… ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Eigentlich begreife ich immer noch nicht ganz, wie du mich davon überzeugen konntest, dich zu begleiten.»
«Wir werden uns amüsieren, das verspreche ich dir. Und mir wird es guttun, meinen geplagten Magen einmal ordentlich zu füllen.»
«Vielleicht sollte ich lieber nicht mitkommen. Ich kenne ihn ja nicht einmal.»
«Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, dass er mit mir in Harvard studiert hat. Er ist etwas wunderlich, aber du wirst ihn mögen», sagte Scott und fuhr fort: «Du brauchst eine Pause, lieber Freund. Entspann dich und mach dir nicht so viele Gedanken. Du musst die Bücher mal für eine Weile vergessen und stattdessen die kleinen Freuden des Lebens genießen.»
Als sie im Restaurant ankamen, führte ein livrierter Kellner sie zu einem Tisch, an dem ein junger Mann in einem eleganten olivgrünen Anzug bereits auf sie wartete. Er hatte ein langgezogenes Gesicht, tiefe Geheimratsecken, und sein Schurrbart war so schmal und akkurat, dass er fast so aussah, als hätte ein Bildhauer ihn in sorgfältiger Arbeit aus Stein gemeißelt.
«Guten Abend.» Lächelnd erhob sich der junge Mann.
«Wie geht es dir, Ralph? Lange nicht mehr gesehen.»
«Ja, lange Zeit. Und ich sehe, dass du noch immer so unpünktlich bist», sagte er, hörte aber nicht auf zu lächeln.
«Das stimmt, und ich muss dich um Entschuldigung bitten. Manche Angewohnheiten wird man so schnell nicht wieder los.»
«Mach dir keine Gedanken. Ich würde ja auch keine Uhr darum bitten, rückwärts zu gehen. Aber willst du mich nicht deinem Begleiter vorstellen?»
«Noah, Ralph», stellte Scott die beiden Männer vor.
Lächelnd streckte Ralph seine Hand aus.
«Raphael August Cramer der Dritte», präzisierte er. «Mit Abschluss in Jura und Philosophie.»
«Noah Lacroix», antwortete Noah. «Entlaufener Sklave und Medizinstudent.»
Ralph lachte über Noahs sarkastische Selbstbeschreibung.
«Freut mich sehr. Aber setzt euch doch bitte.»
Als Scott und Noah Platz genommen hatten, fuhr er fort: «Ich habe mir erlaubt, bereits die Getränke zu bestellen. Ich denke, dieser Weißwein passt ausgezeichnet zu den hervorragenden Meeresfrüchten, die man hier bekommt.»
«Mir läuft schon das Wasser im Munde zusammen», freute sich Scott und
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