Fesseln des Schicksals (German Edition)
auf.
«Es ist eine Nachricht von Noah!»
Hortensia hielt den Atem an. «O Gott», rief sie mit erstickter Stimme. «Geht es ihm gut?»
Charlotte las die Nachricht laut vor. «Du musst dringend kommen. Deine Gegenwart ist zwingend erforderlich. Noah.»
Sie ließ das Blatt sinken. «Ich verstehe das nicht», sagte sie und konnte ihre Besorgnis nicht verbergen.
«Was wirst du tun?»
«Ich fahre nach Washington.»
«Und wie kommst du zu Noah?»
«Das Krankenhaus ist nur zwei Tagesreisen von der Hauptstadt entfernt. Ich werde mir irgendein Transportmittel suchen. Vielleicht kann ich eine Kutsche mieten.»
«Ich komme mit dir.» Hortensia stand auf.
«Nein. Du musst bei den Kindern bleiben.»
«Aber wenn ihm etwas passiert ist …»
«Es geht ihm sicher gut», beruhigte Charlotte ihre Schwester, aber sie wirkte nicht sehr überzeugt. «Sobald ich ihn sehe, gebe ich dir Bescheid.»
Schnell packte sie einen kleinen Koffer. Als sie das Haus verließ, drückte Hortensia ihr einen Zettel in die Hand.
«Was ist das?», fragte sie, als sie sah, dass es eine Adresse in Washington war.
«Scott wohnt dort.»
«Er ist in Washington?»
Hortensia nickte.
Charlotte wollte den Zettel nicht annehmen, aber Hortensia drängte sie. «Bitte. Ich bin beruhigter, wenn ich weiß, dass du jemanden hast, falls du in Schwierigkeiten bist. Bitte.» Hortensia beobachtete, wie Charlotte die Adresse in ihre Tasche steckte. «Pass auf dich auf, Charlotte», sagte sie mit feuchten Augen und umarmte ihre Schwester lange und innig.
***
Kaum war Charlotte in Washington angekommen, fand sie einen Mann, der sie auf der Landstraße zu dem Krankenhaus brachte, wo Noah arbeitete.
Je weiter sie nach Süden kam, desto deutlicher machte sich der Krieg bemerkbar. Es gab mehr Kontrollen, und auf den Straßen, auf denen man früh am Morgen schon Raureif sehen konnte, waren ganze Regimenter unterwegs. Vier Tage nachdem sie Boston verlassen hatte, kam Charlotte endlich vor dem Krankenhaus an. Sie war vollkommen erschöpft. Mit einem tiefen Seufzer nahm sie ihren Koffer. Sie musste auf alles gefasst sein.
«Ich suche Doktor Lacroix», sagte sie zu einer Krankenschwester, die solche Ringe unter den Augen hatte, als hätte sie nächtelang nicht geschlafen.
Die Krankenschwester zeigte auf die Treppe. «Im ersten Stock.»
Beruhigt atmete Charlotte auf. Zumindest lebte er noch.
Nachdem sie die Stufen hinaufgestiegen und an unzähligen Verletzten vorbeigekommen war, streckte Charlotte ihren Kopf in einen Saal und wandte sich erneut an eine der vielen Krankenschwestern, die sich um die Verwundeten kümmerten.
«Doktor Lacroix, bitte?»
Die Krankenschwester lächelte ihr zu und deutete auf einen Vorhang, der den Saal teilte.
«Dort hinten, Miss.»
«Danke.»
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als Charlotte zögernd auf den Vorhang zuging. Sie versuchte, sich innerlich auf das Schlimmste vorzubereiten. Erst nachdem sie all ihren Mut zusammengenommen hatte, schob sie den Vorhang beiseite.
Noah schrieb in aller Ruhe etwas auf die Tafel am Fußende eines Krankenbettes. Er wirkte verändert. Es waren nur wenige Monate vergangen, seit er seine Approbation bekommen hatte, und er war immer noch der elegante und aufrechte junge Mann, der im nächsten Monat achtundzwanzig werden würde. Aber trotzdem war da etwas Unbekanntes an ihm. Er sah müde aus, und in seinem ernsten Gesicht spiegelten sich die Schrecken des Krieges, die er in den letzten Monaten erlebt hatte.
«Noah!», rief Charlotte, ließ den Koffer auf den Boden fallen und fiel ihrem Bruder um den Hals. «Ich hatte schon gedacht, dass dir etwas passiert wäre. Du hast uns einen furchtbaren Schrecken eingejagt.»
«Mir geht es gut, Charlotte.»
«Gott sei Dank!», rief sie aus und sah ihn prüfend an, um sicherzugehen, dass er sie auch nicht belog.
«Wirklich», lächelte Noah. «Mit mir ist alles in Ordnung.»
«Und deine Nachricht?»
Als Charlotte den Brief erwähnte, führte Noah seinen Finger an die Lippen, damit sie schwieg. Sie gehorchte. Dann sah er sich vorsichtig nach seinem Patienten um, der aber im Moment nicht bei Bewusstsein war, und trat noch näher an seine Schwester.
«Ich konnte nicht deutlicher werden», flüsterte er. «Man weiß nie, wer einem alles nachspioniert.»
«Was ist denn los, Noah?»
Noah beendete noch schnell die Notizen auf der Tafel des Patienten und gab dann Charlotte ein Zeichen, ihm zu folgen. In einem kleinen Raum überreichte er ihr den Kittel einer
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