Fesseln des Schicksals (German Edition)
hart spürte sie die trockene Erde unter ihren Füßen. Der Raum war dunkel. Sie sah zwei Pritschen, wacklige Stühle, von denen der Lack abgeblättert war und die neben einem ebenso klapprigen Tisch von undefinierbarer Farbe standen. An einer Wand war ein einfaches Holzbrett als Regal angebracht. Darauf befanden sich eine Öllampe, je zwei Teller und Becher, die aus Blech zu sein schienen, und eine leere Konservendose, auf der man erste Rostflecken sah. Und mitten in dieser farblosen Welt entdeckte Charlotte die Umrisse des vielgepriesenen Schatzes, den ihr schlimmster Feind wohl vor der staubigen Erde hatte schützen wollen.
Als sie die Decke zurückschlug und die Schachtel entdeckte, war Charlotte nicht einmal überrascht, dass der Sklave dieses einfache Behältnis aus Pappe so bewunderte. Es war so strahlend neu, dass es selbst ihr inmitten dieser armen und schäbigen Umgebung wertvoll vorkam, und dabei hatte sie den Schachteln, in denen Hüte aufbewahrt und Kleider geliefert wurden, vorher nie Beachtung geschenkt.
Der Schatten eines Zweifels begann an Charlotte zu nagen. Vielleicht hatte ihre Mutter gar nicht so unrecht, und die Sklaven waren nicht anders als sie selbst. Allein dieser Gedanke ließ sie von Kopf bis Fuß erzittern. Aber dann fielen ihr die Worte des Vaters wieder ein. Sie durfte kein Mitleid haben, hatte er ihr erst am Tag zuvor gesagt. Wenn man zuließ, dass die Sklaven vergaßen, wo sie hingehörten, würde Chaos in der Welt ausbrechen. Schon bald würden sie ihre Freiheit verlangen und in die Schule und die Kirche gehen wollen. Und noch bevor man etwas dagegen tun könnte, würden die Slaven sich gegen ihre weißen Herren auflehnen. Das war schon einmal geschehen, nur wenige Jahre vor Charlottes und Hortensias Geburt.
In Southampton County, dem benachbarten Bezirk, hatte ein Sklave namens Nat Turner beschlossen, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien. Charlotte erinnerte sich gut an den Namen, weil ihr Vater ihn bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt hatte und weil es den Sklaven auf New Fortune, genau wie auf den meisten Plantagen der Umgebung, aufs strengste verboten war, ihre Söhne Nat zu nennen. Turner und sieben seiner Anhänger waren mitten in der Nacht in das Haus ihres Herren eingebrochen und hatten ihn und seine Familie ermordet. Danach hatten sich viele Sklaven Turner angeschlossen und ihren Weg in die Freiheit mit Blut getränkt. Als Turner und seine Anhänger Monate später schließlich hingerichtet wurden, hatten sie mehr als fünfzig weiße Männer, Frauen und Kinder getötet.
Seither waren über zehn Jahre vergangen, aber wenn jemand den Sklaven erwähnte, der damals sein Volk befreien wollte, rutschten die Weißen noch immer unruhig auf ihren Stühlen herum.
«Sklaven sind von Natur aus undankbar und rachsüchtig», hatte ihr Vater erklärt. «Sie haben kein Ehrgefühl und halten ihr Wort nicht. Und wenn du nicht willst, dass sie vergessen, wo ihr Platz ist, solltest du nicht vergessen, wo deiner ist», hatte er ihr gesagt.
Charlotte wusste genau, was ihr Vater meinte. Als ihre Mutter zuließ, dass ein Sklave gemeinsam mit ihnen unterrichtet wurde, hatte sie vergessen, wo ihr Platz war. Damit hatte sie unbewusst die ganze Familie in Gefahr gebracht. Aber Charlotte wusste, was sie zu tun hatte, und bevor die Zweifel an der Überlegenheit der Weißen sich in ihrem Herzen einnisteten, würde sie diese vertreiben.
Sie schleuderte die Schachtel zu Boden und sprang mit beiden Füßen auf ihr herum. In nur einem Augenblick hatte sie sie zerstört.
***
Als die Schulstunde vorbei war, rannte Noah zur Hütte. Er musste sich umziehen und so schnell wie möglich auf die Felder, um bei der Erntearbeit zu helfen.
Er konnte es kaum erwarten, zu seiner Mutter zu laufen und ihr zu erzählen, dass er eine Schiefertafel und Kreide bekommen hatte. Er war so aufgeregt, dass er die Schachtel erst auf den zweiten Blick bemerkte.
Sie war kaputt! Jemand war so sehr auf ihr herumgetrampelt, dass sie völlig zerrissen war.
Noah stieß einen Schrei aus und – vergessen war seine neue Kleidung – kniete sich auf den Boden, um die verstreuten Einzelteile zusammenzusuchen. Wer hatte etwas so Furchtbares tun können?, fragte er sich und fing bitter an zu weinen, während er sich die staubbedeckten Überbleibsel seines wertvollen Schatzes an die Brust drückte.
***
Clarisse Gassaud war zweiundvierzig Jahre alt, als sie zum ersten Mal den Fuß auf den nordamerikanischen Kontinent setzte.
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