Fesseln des Schicksals (German Edition)
In den Schoß einer wohlhabenden Marseiller Adelsfamilie hineingeboren, wuchsen Clarisse und ihr Bruder inmitten von Luxus auf. Nichts war für die Gassauds gut genug. Doch eines Tages, Clarisse hatte die zwanzig kaum überschritten, starb ihr Vater, und alles brach zusammen. Durch ein Leben in Exzess und Müßiggang hatten ihre Eltern nur ein Menschenalter gebraucht, um das Familienvermögen zu verprassen. Nicht einmal die Revolution hatte Derartiges vermocht.
Sie waren ruiniert. Zu arm, um einen wohlhabenden Mann von Stand zu heiraten, und zu klug, um eine einfache Arbeiterin zu sein, entschied Clarisse sich für die einzige Möglichkeit, die einer Frau ihrer Herkunft offenstand, wenn sie nicht den Schleier nehmen wollte. Sie wurde Gouvernante.
Es war zwar nicht ganz einfach, eine Anstellung zu finden, aber dank der Freunde, die ihr noch geblieben waren, kam sie bei den Rambadots unter. Diese ordinäre Familie hatte mit einem Marktstand am Hafen ein Vermögen angehäuft, aber alle Juwelen und Parfüms der Welt konnten den Geruch nach Fisch nicht überdecken, der jeder ihrer Gesten entströmte.
Eine gute Aussteuer verhalf den vier Rambadot-Töchtern zu Ehemännern von hohem Stand, aber geringen Einkünften, die die Fischersfamilie endlich auch in die höchsten Sphären der Marseiller Gesellschaft einführten. Fast zwanzig Jahre hatte Clarisse in den Diensten der Rambadots gestanden, aber als die Familie ihre Ziele schließlich erreicht hatte, war ihre Gegenwart nicht mehr notwendig, und man entledigte sich ihrer mit einer Gleichgültigkeit, als wäre sie ein alter Hund.
Zum zweiten Mal in ihrem Leben wusste sie nicht, wohin sie sollte. Aber obwohl sie sich gedemütigt und gekränkt fühlte, war Clarisse im Grunde höchst erleichtert, diese Familie los zu sein. Sie hatte sie immer verachtet. Hätte der Adel sich nicht für eine Handvoll Münzen kaufen lassen, hätten sie niemals Zugang zu den besten Kreisen der Gesellschaft gefunden. Als Clarisse feststellen musste, dass solche Menschen nun die gleiche gesellschaftliche Stellung einnahmen wie früher ihre Eltern, brach ihre Welt wie ein Kartenhaus zusammen. Denn trotz all der erlittenen Entbehrungen hatte sie sich immer an die Überzeugung geklammert, diesen Menschen überlegen zu sein. Und diese Gewissheit hatte ihr geholfen, ihr demütigendes Leben zu ertragen. Jetzt aber waren diese dummen Mädchen Marquisen und Gräfinnen geworden, gingen auf Bälle und in die Oper, während sie, eine Tochter der alten Grafenfamilie Gassaud, nur eine Gouvernante war, ohne Anstellung und arm wie eine Kirchenmaus.
Als sie dann aus reinem Zufall eine Anzeige entdeckte, in der eine Gouvernante in Übersee gesucht wurde, zögerte sie nicht. Ihre Verpflichtungen würden sich auf den Unterricht beschränken, und sie würde sogar ein eigenes Haus bewohnen. Das Angebot, in die Neue Welt zu reisen und die Hauslehrerin der Töchter eines Plantagenbesitzers zu werden, kam ihr reizvoll vor. Es war die ideale Gelegenheit, Marseille zu verlassen und neu anzufangen. Vorher allerdings musste sie noch eine letzte Demütigung über sich ergehen lassen. Sie musste den ordinären Fischer um ein Empfehlungsschreiben bitten.
***
Zwei Wochen nachdem Mademoiselle Gassaud auf New Fortune angekommen war, hatte sie noch immer nur zwei Schüler, darunter einen Farbigen.
«Wie ist es im Unterricht?», fragte Charlotte eines Nachmittags ihre Schwester.
«Es ist schön. Aber du fehlst mir. Wann kommst du endlich auch?»
Charlotte schüttelte den Kopf und spielte mit ein paar Steinen in ihrer Tasche.
«Das hängt von Mama ab.»
«Ach, Charlotte. Noah ist ein sehr kluger Junge. Er lernt sehr schnell. Er kann schon seinen Namen schreiben.»
Obwohl Charlotte nicht viel von Buchstaben verstand, wusste sie doch, dass der Name des Sklaven sehr viel einfacher war als der ihrer Schwester. «Er ist schließlich älter als wir», gab sie trotzig zurück. «Und mit einem so kurzen Namen hätte das jeder gelernt.»
«Aber er kann auch meinen Namen schreiben. Und deinen auch!»
Das hatte gesessen. Auf keinen Fall konnte Charlotte zulassen, dass ein Sklave ihren Namen schrieb, bevor sie selbst es konnte. Am nächsten Tag schluckte sie ihren Stolz hinunter und nahm an ihrer ersten Schulstunde teil.
***
«Großvater!», riefen die Mädchen im Chor.
Gaston Lacroix drehte sich zu seinen Enkelinnen um und breitete die Arme aus, um die Kinder in Empfang zu nehmen. «Mes petites!»
«Mama hat uns gar nicht gesagt,
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