Fesseln des Schicksals (German Edition)
dass du kommst», beschwerte sich Charlotte, während der Großvater sie nacheinander in die Luft hob.
«Es war auch eine Überraschung!»
Katherine beobachtete ihren Vater. Seit er sie das letzte Mal besucht hatte, hatte er zugenommen, und obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, wurden ihm die Mädchen schnell zu schwer. «Kommt, Kinder. Lasst euren Großvater.»
Gaston Lacroix stellte jetzt Hortensia vorsichtig wieder auf dem Boden ab und richtete sich auf. «Seit meinem letzten Besuch seid ihr ganz schön gewachsen», keuchte er.
Stolz reckte sich Charlotte, damit ihr Großvater sehen konnte, wie groß sie geworden war.
«Und Hortensia ist noch mehr gewachsen!» Sie zog ihre Schwester, die noch ein gutes Stück größer war, zu sich heran.
«Aus dir wird eine sehr große junge Dame werden.» Mit der Handfläche markierte er die Stelle an seiner Brust, an die der Kopf seiner Enkelin reichte.
Hortensia lächelte. «Großväterchen, wir haben schon die Geschichten gelesen, die du uns letztes Jahr geschenkt hast.»
«Habt ihr sie mit Mama gelesen?»
Rasch verneinte Hortensia. «Nein, mit Mademoiselle Gassaud.»
« Mon Dieu! Und wer ist Mademoiselle Gassaud?»
«Die Gouvernante der Mädchen», fiel Katherine ein. «Sie ist am Anfang des Sommers angekommen.»
Überrascht erstrahlte Gastons Gesicht, als er den Namen der Hauslehrerin vernahm. «De la France?»
«Oui, papa, de la France» , antwortete Katherine.
«Lernt ihr denn viel bei Miss Gassaud?»
Die beiden Mädchen nickten.
«Und haben euch die Geschichten gefallen?»
«Sie waren wundervoll, Großvater!», rief Hortensia aus. «Und Noah haben sie auch sehr gefallen.»
«Noah? Und wer ist Noah?»
«Noah …», Hortensia wusste nicht, wie sie es sagen sollte, «das ist ein Junge …»
«Es ist der Sklave, der mit uns zum Unterricht geht», erklärte Charlotte mit Unschuldsmiene. Sie wusste nur zu gut, dass niemand außerhalb von New Fortune erfahren durfte, dass ein Sklave gemeinsam mit ihnen am Unterricht teilnahm. Ihr Vater hatte ihr erklärt, welche Unannehmlichkeiten das für ihre Mutter haben konnte, und sie hatte ihm versprechen müssen, mit niemandem darüber zu reden. Aber der Großvater gehörte zur Familie. Und Charlotte wollte keinesfalls eine Gelegenheit verstreichen lassen, um ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen und einen Verbündeten zu suchen.
Hortensia schubste ihre Schwester heimlich, damit sie nicht noch mehr sagte, aber Charlotte blieb ungerührt.
Obwohl man nicht die Spur einer Veränderung in Gaston Lacroix’ Gesichtsausdruck sah, loderten seine Pupillen auf. Katherine vermied es, ihn direkt anzusehen.
«Sehr gut», sagte er und schnippte laut mit den Fingern. «Wer errät wohl, für wen diese Kästchen sind?»
Sofort hatten die Mädchen Noah vergessen und wandten sich dem Tisch zu, auf den der Großvater zeigte.
Dort standen zwei Holzkästchen. Sie sahen so ähnlich aus wie die Zigarrenkästchen ihres Vaters, nur etwas breiter.
«Sind die für uns?»
«So ist es. Für jede eines.»
Charlotte hatte schnell das Kästchen an sich genommen, auf dem ihr Name eingeprägt war. Als sie es öffnete, blieb ihr der Mund offen stehen.
«Sie sind aus Gold», erklärte Gaston Lacroix. «Eine für jeden Geburtstag.»
Auch Hortensia öffnete den Verschluss ihres Kästchens mit zitternden Händen und betrachtete gebannt die Goldmünzen darin.
«Schaut sie euch einmal genau an», meinte Gaston Lacroix und nahm jeweils die erste Münze aus den Kästchen. «Auf dieser hier ist dein Name und der Tag eurer Geburt eingraviert.» Er zeigte sie Hortensia. «Und dies ist deine, Charlotte.»
Lacroix legte die Münzen wieder in die mit Samt ausgeschlagenen Mulden und zeigte auf die beiden folgenden.
«Seht ihr? Hier erscheint das Datum eures ersten Geburtstages, und des zweiten, des dritten … für jeden Geburtstag eine Münze. Und von jetzt an werde ich euch jedes Jahr eine neue schenken.»
Gaston Lacroix freute sich an den staunenden Gesichtern seiner Enkelinnen.
«Außerdem», flüsterte er geheimnisvoll, «hat mir ein Vögelchen gezwitschert, dass es vielleicht noch eine Überraschung gibt …»
«Geschenke?», rief Charlotte, als sie das Kästchen schnell wieder zuklappte.
«Wer weiß?», antwortete Lacroix. «Ich weiß nur, dass das Vögelchen aus eurem Zimmer geflogen kam.»
Behutsam strich Hortensia über die Münzen und klappte ihr Kästchen langsam zu. Dann ging sie zu ihrem Großvater und gab ihm
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