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Fesseln des Schicksals (German Edition)

Fesseln des Schicksals (German Edition)

Titel: Fesseln des Schicksals (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liz Gallaga
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vor.
    «Richtig.»
    Erleichtert seufzte das Mädchen. Aber bevor sie sich entspannen konnten, hatte Mademoiselle Gassaud schon eine weitere Aufgabe an die Tafel geschrieben.
    Charlotte verzog das Gesicht, als sie die vielen Siebenen sah, die in der Rechenaufgabe enthalten waren. Siebenen hatte sie noch nie gemocht.
    «Siebenundsiebzig mal sieben?»
    Zum zweiten Mal drehte Charlotte sich hilfesuchend nach Hortensia um, aber die zuckte mit den Schultern.
    «Weiß jemand die Antwort?»
    Die beiden Mädchen steckten die Köpfe tief in ihre Hefte und wagten nicht aufzublicken. Und Noah tat gar nichts. Er hatte die Aufgabe noch nicht einmal in sein Heft geschrieben. Schon vor einiger Zeit hatte er festgestellt, dass er für Mademoiselle Gassaud nicht existierte. Außerdem mochte er die hochnäsige Frau mit dem verkniffenen Gesicht nicht. Die vorstehende Nase und die schmalen, eng zusammenstehenden Brauen, die sich in der Mitte abwärts neigten, verliehen ihr das Aussehen ständiger schlechter Laune. Die farblosen Lippen hoben sich kaum von der blassen Haut ab. Verstohlen betrachtete Noah die Hände der Lehrerin, ihren langen und dünnen Hals, und versuchte dann, sich vorzustellen, wie die braunen, sauer dreinblickenden Augen wohl aussahen, wenn sie in einem Lächeln erstrahlten. Dabei entstand plötzlich ein ganz anderes Bild von Mademoiselle Gassaud, ohne den schrecklichen Dutt und die Brille, die ihr an einem Kettchen um den Hals hing. Und er dachte überrascht, dass sie eigentlich eine schöne Frau gewesen sein musste.
    Als Noah vor einem Jahr mit dem Unterricht angefangen hatte, standen die drei Pulte noch in einer Reihe, aber Mademoiselle Gassaud hatte nach wenigen Wochen verfügt, die Mädchen nach vorne zu setzen und Noah dahinter, neben die Tür, um das Schulzimmer harmonischer zu gestalten, wie sie sagte.
    «Vielleicht weiß Noah die Lösung, Mademoiselle Gassaud», sagte Charlotte, die aus den Augenwinkeln erspäht hatte, dass Noahs Heft leer war.
    Die Gouvernante musste nur den Namen des Jungen hören, damit sie sich noch etwas gerader aufrichtete. Seit dem ersten Unterrichtstag sagte sie sich, dass sie ihn einfach nicht beachten würde. Außerdem war sie davon überzeugt, dass ein Sklave nicht fähig wäre, irgendetwas zu lernen. Das würde auch Mrs. Parrish bald einsehen müssen und sich schließlich geschlagen geben. Dann würde man ihn wieder auf die Baumwollfelder schicken, wo er wahrscheinlich hergekommen war, und sie wäre ihn los. Die Ordnung wäre wiederhergestellt.
    Aber trotz allem lernte der Sklave, und zwar schneller als jeder andere Schüler vor ihm. Diese Aufgabe hatte er jedoch nicht einmal von der Tafel abgeschrieben. Vielleicht wusste er die Lösung nicht. Clarisse wollte unbedingt beweisen, dass dieser Junge nicht so intelligent war, wie es den Anschein hatte. Einige grundlegende Prinzipien durften sich einfach nicht verändern. Genauso wenig wie Fischverkäufer zum Adel aufstiegen, konnte ein Sklave so klug sein wie ein Weißer.
    «Sie!»
    Noah hob den Kopf und deutete mit dem Finger fragend auf seine Brust.
    «Ja, Sie», wiederholte Mademoiselle Gassaud streng. «Wie viel ist siebenundsiebzig mal sieben?»
    Die Mädchen drehten sich um. Noah spürte, wie Charlotte ihn förmlich anstarrte. Mademoiselle Gassaud hingegen versuchte, ihm nicht direkt ins Gesicht zu sehen. Aber er hatte durchaus schon bemerkt, wie sie ihn ansah, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Dann erkannte er das Feuer in ihren Augen. Auf die gleiche Weise sah auch sein Vater ihn an. Hinter dieser Frage versteckte sich tiefer Hass.
    Noah zögerte. Er wusste nicht, ob er antworten sollte.
    Ein triumphierendes Lächeln zeigte sich auf Charlottes Gesicht. Nur Hortensia versuchte, ihn mit ihrem Blick zu ermutigen. Noah wusste, dass sie Vertrauen in ihn hatte.
    «Fünfhundertneununddreißig», brachte er mit dünner Stimme hervor.
    Hasserfüllt blickte Mademoiselle Gassaud ihn an. «Können Sie das wiederholen?»
    «Fünfhundertneununddreißig.»
    Die Lehrerin drehte sich um und löste die Rechenaufgabe an der Tafel. Eine nach der anderen erschienen die Zahlen, drei, neun … und als die Fünf auf dem schwarzen Untergrund der Tafel Form annahm, wurde die Kreide langsamer und zerbrach. Charlottes anmaßendes Lächeln wich einer erstaunten Grimasse. Jetzt schenkte Hortensia dem Sklavenjungen das süßeste Lächeln, an das er sich erinnern konnte. Und zum ersten Mal seit Beginn des Unterrichts lächelte auch Noah.
    Clarisse Gassaud

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