Fesseln des Schicksals (German Edition)
brauchte ein paar Sekunden, um die Fassung wiederzuerlangen und sich erneut ihren Schülern zuzuwenden. Dieser dumme Sklave hatte sie gedemütigt, und das würde sie ihm nicht verzeihen. Sie faltete die Hände vor dem Schoß, begab sich mit festem Schritt zu ihrem Pult und öffnete das Lesebuch. Die Mathematikstunde war vorbei.
«Beginnen Sie, Miss Charlotte.»
Augenblicklich verschwanden die Mathematikhefte von den Pulten und wurden durch die Lesebücher ersetzt.
Noch immer wütend darüber, dass sie Noah nicht hatte bloßstellen können, öffnete Charlotte das Buch an der Stelle, an der sie das letzte Mal aufgehört hatten. Stockend begann sie zu lesen.
Es handelte sich um die «Reise um die Welt» des großen englischen Seefahrers James Cook. Im Moment lasen sie das Kapitel, in dem er von der Entdeckung einer sehr entlegenen Insel namens Neuseeland erzählte. Ihre Einwohner waren Wesen mit dunkler Haut, wild, gewalttätig und halbnackt, die ihre Ohrläppchen mit Tierknochen durchbohrten und ihre Körper von Kopf bis Fuß tätowiert hatten. Sogar eine Illustration zeigte das furchterregende Aussehen jener Wilden.
Charlotte ärgerte sich darüber, dass Hortensia sich so gut mit Noah verstand. Aber ihre Schwester konnte nichts dafür. Sie war gut und vertrauensselig, und im Unterschied zu Charlotte wusste sie nichts über die wahre Natur der Sklaven. Hortensia hatte die Geschichten ihres Vaters nie gemocht. Sie wollte nichts von Nat Turner hören und den schrecklichen Dingen, die er getan hatte. Zwar warnte Charlotte ihre Schwester ständig davor, wie gefährlich es war, sich mit den Sklaven abzugeben, aber immer wenn sie davon anfing, beschränkte Hortensia sich darauf zu erklären, dass sie Noah mochte und für einen sehr sympathischen und intelligenten Jungen hielt.
Auch jetzt lächelten die beiden sich glücklich zu und achteten gar nicht auf den Text, den Charlotte ohne große Leidenschaft vortrug. Aber die Stelle über die Wilden und die Illustration dazu hatten Charlotte auf eine Idee gebracht. «Mademoiselle Gassaud?»
Die Lehrerin blickte auf. «Miss Charlotte? Wünschen Sie etwas?»
Der schneidende Ton in der Stimme der Gouvernante verriet Charlotte, dass sie den Zwischenfall mit Noah noch nicht vergessen hatte. Das Mädchen hatte gleich bemerkt, dass diese einsilbige Frau heftigen Groll gegenüber dem Sklaven hegte. Neben der Tatsache, dass sie seine Gegenwart seit einem Jahr ignorierte, zeigten das auch die heimlichen Blicke, die sie ihm hinter ihrem Textbuch verschanzt zuwarf. Dabei glühten ihre Augen, und ihr Kiefer war angespannt. Diese Frau hasste den Sklaven, das hätte sogar ein Blinder bemerkt. Nur ihre Mutter ahnte nicht das Geringste.
Charlotte lächelte unschuldig. Das war ihre Gelegenheit. «Entschuldigen Sie, Mademoiselle Gassaud. Könnten Sie uns erklären, warum die Wilden und die Sklaven dunkle Haut haben?»
«Gott hat sie so erschaffen», antwortete die Lehrerin und sah Noah zum ersten Mal seit ihrer Ankunft auf New Fortune fest an.
Noah fühlte, wie er bis über beide Ohren errötete.
«Der Herr hat sie farbig gemacht, um sie zu zeichnen. So kann man sie vom weißen Mann unterscheiden, den Er nach seinem Bild erschaffen hat», erklärte sie und ließ all dem Hass freien Lauf, den sie in ihrem Leben angehäuft hatte.
Hortensia warf Charlotte einen wütenden Blick zu, aber die achtete einfach nicht auf ihre Schwester.
Inzwischen hatte die Lehrerin die übliche Kontrolle über ihre Stimme wiedererlangt. Noah verstand nicht, wie es sein konnte, dass Mademoiselle Gassauds Stimme fern und kalt klang, während die seiner Herrin so sanft und warm war, wo doch beide die gleiche Sprache sprachen.
Um den feindseligen Blicken zu entgehen, die ihn förmlich durchbohrten, senkte Noah den Kopf so weit hinunter, wie er konnte. Am liebsten wäre er weggelaufen, aber doch hielt ihn etwas zurück. Er wollte wissen, warum er anders war. Warum war seine Haut dunkel und die seiner Schwestern hell? Oft schon hatte er danach fragen wollen, aber wen? Seine Mutter wollte er nicht traurig machen, und er glaubte nicht, dass einer der anderen Sklaven die Antwort kannte. Heute würde er es endlich erfahren.
«Die dunkle Haut zeichnet jene, die Satan dienen», fuhr Mademoiselle Gassaud fort.
Bei der Erwähnung von Satan hielten Charlotte und Hortensia erschrocken den Atem an. Auch Noah blieb reglos sitzen. Er durfte nicht einen Laut verpassen. Alles wollte er wissen. Er versuchte, den Namen dieses
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