Fesseln des Schicksals (German Edition)
einmal zu Unrecht beschimpft hatte. Doch ihr Sohn schien dabei vollkommen das Maß verloren zu haben. Er war ein Idealist, und seine Leidenschaft für die noble Sache wurde langsam zu einem Problem.
«Sei nicht so hart zu ihm», sagte sie zu ihrem Mann, als sie in der großen Bibliothek waren, in der Raymond ganze Nächte mit der Lektüre der Bücher verbrachte, die dicht an dicht in den Regalen standen. «Nach allem, was ich gehört habe, war er zumindest sehr eloquent», bemerkte sie und zog ein wenig die Augenbrauen hoch.
Endlich lächelte Raymond und entspannte sich. Er mochte diese kleinen ironischen Bemerkungen seiner Frau. Im Unterschied zu ihr hatte er diese subtile Kunst nie zu beherrschen gelernt.
«Verteidige ihn nicht auch noch. Diesmal müssen wir hart durchgreifen. Wir haben ihm zu viel durchgehen lassen. Und ich glaube nicht, dass es ihm gutgetan hat.» Beatriz wollte eigentlich widersprechen, doch sie ahnte, dass ihr Mann recht hatte.
«Was wirst du tun?»
«Ich kann nur eins tun.»
Sie wusste, wovon er sprach. Mehr als einmal hatten sie über diese Möglichkeit nachgedacht und sie letztendlich immer wieder verworfen.
«Aber es ist so weit weg … und Scott ist so …»
Doch dieses Mal bat ihr Mann sie um ihre Unterstützung. Wenn sie sich den Problemen nicht gemeinsam stellten, würde sich nichts verändern, und O’Flanagan konnte nicht zulassen, dass sein Sohn einfach tat, was er wollte, ohne sich im mindesten darum zu kümmern, was das für seine Familie bedeutete.
Beatriz lächelte. Und sie lächelte nur selten. Obwohl ihr Mann schon fünfzig war, zeigte sich kein bisschen Grau in seinen schwarzen Haaren. Raymonds Gesicht war zwar nicht schön, aber es strahlte Energie und Entschlossenheit aus, und das machte ihn attraktiv. Nur durch sein eigenes Streben war er der schlimmsten Armut entronnen und zu einem der reichsten Männer in Massachusetts geworden. Aber das, was Beatriz dazu gebracht hatte, sich in diesen Mann zu verlieben, war der melancholische, traurige Blick, der sich tief hinter seinen dunklen Augen verbarg.
Scott trat ohne anzuklopfen ein. Obwohl er sich seines Rocks schon entledigt hatte, trug er noch den gestreiften Schal um den Hals. Er war nicht groß für sein Alter, doch sein glattrasiertes Gesicht, in dem sich die Züge des Mannes, zu dem er einmal werden würde, erst ankündigten, zeigte an, dass er noch wachsen würde. Zerstreut schüttelte er die Schneeflocken ab, die an seinen Haaren hafteten.
«Papa, Mama», grüßte er ungezwungen, «James hat gesagt, dass ihr mich sehen wollt.»
«Guten Abend, mein Lieber.»
Sein Vater antwortete nicht auf seinen Gruß, doch das durchdringende Leuchten seiner dunklen Augen war Scott eine Warnung. Die Situation war ernst.
«Scott, ich glaube, du hast mir etwas zu sagen.»
Zu diesem Zeitpunkt wusste schon ganz Boston, was geschehen war. Es war zwecklos zu leugnen, und noch weniger vor dem Besitzer der auflagenstärksten Zeitung der Stadt.
«Er hat es verdient», sagte Scott und zuckte mit den Schultern.
«Er hat es verdient?», wiederholte sein Vater kopfschüttelnd. «Und das ist alles? Glaubst du, das genügt, nachdem du einen Mann, der bald unser Bürgermeister wird, öffentlich beleidigt hast?»
«Wenn du ihn nicht unterstützen würdest, würde es nicht so weit kommen.»
«Wage es bloß nicht …», warnte sein Vater mit lauter Stimme. «Ich bin dein Vater, und ich weiß, was für diese Familie das Beste ist.»
«Dieser Mann schätzt dich in keinster Weise. Das Einzige, was er will, ist dein Geld. Wie kannst du das ignorieren?»
O’Flanagan war nicht dumm. Nicht umsonst hatte er sich aus dem Loch, in dem er aufgewachsen war, befreien und ein immenses Vermögen anhäufen können. Er wusste genau, dass der Bürgermeisterkandidat kein Mann von großem moralischen Format war. Aber er hatte seine Pläne. Brian, sein Ältester, hatte gerade die Universität beendet. Dafür, dass seine Zeitung Zortons Kandidatur unterstützte, würde Brian eine Stelle als Mitarbeiter des Gouverneurs bekommen.
«Hast du vergessen, wer du bist? Weißt du, dass ich ein Vermögen dafür ausgebe, die Kandidatur dieses Mannes zu unterstützen?»
«Dieser Mann verdient dein Vertrauen nicht!»
«Du hast nicht zu bestimmen, wer mein Vertrauen verdient! Du bist mein Sohn und solltest tun, was ich sage!» Raymond schlug mit der Faust auf den Schreibtisch.
Scotts Sturheit machte ihn wahnsinnig. Nie gab er klein bei. Man konnte ihn einfach
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