Fesseln des Schicksals (German Edition)
nicht zur Vernunft bringen. Er war auf eine Weise leidenschaftlich, die Raymond nie hatte verstehen können. Und solch unkontrollierte Leidenschaft konnte zu einer Katastrophe führen.
«Du wirst dich entschuldigen.»
«Wie bitte?»
«Du hast mich schon verstanden. Du wirst dich öffentlich entschuldigen.»
«Du möchtest ernsthaft, dass ich diesen Mann um Verzeihung bitte?»
Sein Vater war nicht zu Scherzen aufgelegt.
«Und was genau soll ich widerrufen?»
Überrascht hörte Beatriz einen Anflug von Sarkasmus in den Worten ihres Sohnes. Ihr Junge veränderte sich, dachte sie traurig und fand sich selbst in ihm widergespiegelt. Scott hatte zugelassen, dass sich eine dünne Schicht Zynismus um sein edles und großzügiges Herz legte, und wenn er nicht aufpasste, würde diese Schicht sich verhärten und so undurchdringlich werden wie Stein.
«Das weißt du genau, Scott.»
«Nein, das weiß ich nicht. Denn nichts von dem, was ich gesagt habe, war falsch. Und das sollte dir klar sein. Du machst einen Fehler, wenn du ihn unterstützt!»
«Ich mache also einen Fehler?»
Trotzig schwieg Scott.
«Ich verstehe. Trotz allem sind es aber diese sogenannten Fehler, die für deine gute Ausbildung gesorgt haben, und übrigens auch für das Geld, das du so selbstlos und großzügig ausgibst.»
«Ja, Vater. Ich bin privilegiert», bestätigte er mit einem Anflug von Schuldbewusstsein. «Es fehlt mir an nichts. Ich lebe im Überfluss, während nur wenige Meter von meinem Zuhause Leute in schmutzigen Gebäuden zusammengepfercht leben und vergeblich nach etwas Wärme suchen. Aber gerade weil ich reich bin, ist es meine Pflicht, mich um die zu kümmern, die dieses Glück nicht haben.»
Beatriz warf ihrem Mann einen Seitenblick zu. Damit hatte Scott ihn an seiner empfindlichsten Stelle getroffen.
«Wer bist du, dass du entscheiden willst, was richtig und was falsch ist? Du weißt nicht, was harte Arbeit ist. Du hast nie Hunger gelitten. Du musstest auch nicht machtlos zusehen, wie die Menschen, die du liebst, von Kälte und Armut aus dem Leben gerissen wurden. Bete zu Gott, dass du niemals erleiden musst, was ich erlitten habe! Aber bis du nicht erfahren hast, was es heißt, mit jedem Atemzug das Leben festzuhalten, dich an das Leben zu klammern», er sprach diese Worte nachdrücklich und mit glühenden Augen, «ja, Scott, dich mit Klauen und Zähnen an das Leben zu klammern, weil du mit Sicherheit keine zweite Chance bekommen wirst, bis dahin hast du nicht das Recht, mich zu verurteilen.»
Raymond sammelte sich kurz und fuhr fort: «Als ich um Hilfe für meine Familie bat, hat niemand mein Flehen erhört. Und deshalb sage ich dir jetzt eines, Scott. Erwarte nie etwas von anderen. Vertrau nur auf deine eigenen Fähigkeiten und denk immer daran, dass es auf der Welt nichts Wichtigeres gibt als die Familie. Ich werde nie wieder jemanden um ein Stück Brot anbetteln müssen. In ein paar Jahren wird dein Bruder in der bedeutendsten staatlichen Behörde dieses Landes sitzen, er wird Gesetze entwerfen und die Geschichte mitgestalten.»
«Aber zu welchem Preis, Vater? Indem du einen Mann unterstützt, der seine Arbeiter ausbeutet, der sie sich zu Tode schuften lässt? Du solltest von allen am besten wissen, wovon ich spreche!»
«Das ist doch nur Gerede.»
«Müsstest du dir einen Mann, dem du dein Vertrauen schenkst, nicht genauer ansehen?»
«Und wenn es der Teufel selbst wäre!», schrie sein Vater. «Ich werde nicht zulassen, dass mein eigener Sohn die Arbeit meines ganzen Lebens zunichtemacht, jetzt wo das Ziel zum Greifen nah ist.»
Wenn Raymond aus seiner in Armut verbrachten Kindheit etwas gelernt hatte, dann war es, nie wieder von jemandem abhängig sein zu wollen. Er würde all denen, die ihm damals den Rücken zugekehrt hatten, beweisen, wer Raymond O’Flanagan, Besitzer von Reedereien, Minen, Webereien und Eisenbahnen wirklich war.
Nicht einmal er selbst kannte die genaue Höhe seines Vermögens. Trotz allem blieb ihm noch etwas zu tun. Er hatte den Gipfel der Macht noch nicht erreicht, war aber kurz davor. Brians Eintritt in die hohen Sphären der Politik würden ihm dabei dienlich sein.
«Ich habe einen Entschluss gefasst», verkündete Raymond, als er merkte, dass sie sich nicht einig werden würden. «Ich werde dich nach Annapolis schicken.»
Scott erstarrte.
«A … Annapolis? Aber dort …»
Sein Vater nickte.
«So ist es. Dort befindet sich die Marineakademie.»
«Aber ich will dort nicht
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