Fesseln des Schicksals (German Edition)
hin!»
«Du hattest die Wahl.»
«Mama?», bat Scott seine Mutter verzweifelt um Unterstützung.
Aber zum ersten Mal in seinem Leben kam seine Mutter ihm nicht zu Hilfe. Sie war sehr ernst und wirkte traurig.
«Dein Vater hat recht. Es ist die beste Lösung», sagte sie, während sie ihrem Sohn sanft eine Strähne aus dem Gesicht strich, die beinahe seine dunklen Augen verdeckte.
«Aber Mama!», widersprach er hilflos. «Und was ist mit Harvard? Das zweite Studienjahr wird bald beginnen.»
Seine Eltern sagten kein Wort.
«Nein!», schrie er verzweifelt. «Ich will nicht zum Militär. Ich hasse die Armee. Ich hasse sie!»
«Das war früher nicht so.»
Wütend wandte Scott sich seinem Vater zu. Er hatte recht. Als Kind hatte Scott immer nur General werden wollen, wie sein Großvater, oder Soldat wie sein Onkel Lead, der Bruder seiner Mutter. Geschichten vom Krieg hatten ihn fasziniert, und er hatte täglich mit den Pistolen geübt, die er von seinem Großvater zum achten Geburtstag bekommen hatte. Aber seit dem Tag vor zwei Jahren, an dem sein Onkel Lead in einem Duell gestorben war, wurde alles anders. Danach nahm Scott nie wieder eine Waffe in die Hand.
«Das ist lange her. Bevor Onkel Lead …» Er sprach den Satz nicht zu Ende. «Bitte, Mama, du weißt, wie gern ich Anwalt werden will. Im letzten Jahr war ich der Beste meines Jahrgangs.»
Sanft lächelte seine Mutter ihm zu, als sie sich an ihren geliebten Bruder erinnerte. Sie wusste, dass Leads Tod für Scott besonders hart gewesen war.
«Harvard ist immer noch da, wenn du den Abschluss an der Marineakademie gemacht hast. Wenn es dann immer noch dein Wunsch ist, kannst du später wieder dort studieren.»
«Aber die Ausbildung an der Akademie dauert vier Jahre, und danach müsste ich noch drei Jahre bei der Marine dienen. Bitte», sagte er noch einmal, «ich verspreche euch auch, dass ich keinen Unsinn mehr mache.»
«Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Scott», sagte sein Vater ungerührt. «Der Beschluss ist gefasst.»
***
Eine Woche später verabschiedete sich Scott auf dem Bahnsteig von seinen Eltern und seinem vier Jahre älteren Bruder Brian.
«Ob ich wohl die richtige Entscheidung getroffen habe?», fragte Raymond sich laut, während die Lokomotive ratternd am Horizont verschwand, eine dunkle Rauchwolke hinter sich herziehend. Er suchte die Augen seiner Frau. Sie hatten nicht aus Liebe geheiratet. Beatriz hatte immer praktisch gedacht. Und als Raymond O’Flanagan ihr einen Antrag gemacht hatte, ein Mann ohne bekannten Namen, aber immens reich, war das die perfekte Lösung für die schwierige wirtschaftliche Situation gewesen, in der ihre Familie sich damals befand. Obwohl ihr Vater, General Sanders, zunächst gezögert hatte, heirateten Beatriz und Raymond. Und mit den Jahren lernten sie, sich zu lieben. Inzwischen hätte Raymond O’Flanagan alles für seine geliebte Gattin aufgegeben, in diesem und auch im nächsten Leben.
Beatriz nahm ihren Mann am Arm, sprach ihm Mut zu und blickte in jene Augen voller Trauer, die sie so bewunderte. «Mach dir keine Sorgen. Er wird es schon schaffen.»
· 15 ·
I n Baltimore stieg Scott aus dem Zug und nahm die Postkutsche. Ein paar Stunden später hielt die Kutsche im Zentrum von Annapolis. Als Scott die Gardine beiseiteschob, sah er, dass die Straßen leer und die Laternen schon angezündet waren. Resigniert ergriff er seinen Koffer, und nachdem er sich von dem Ehepaar verabschiedet hatte, das von Baltimore aus mit ihm gereist war, brach er zu Fuß auf, um das letzte Stück Weg zurückzulegen.
Er befolgte die Anweisungen, die der Kutscher ihm gegeben hatte, bog links in die erste Straße ein und lief dann weiter, bis er die Geräusche und Gebäude der Stadt hinter sich ließ. Suchend blickte er sich nach irgendetwas um, das ihm zur Orientierung dienen konnte, aber der Weg führte durch einen dichten, schwarzen Wald, und er konnte kaum noch erkennen, wohin er seinen Fuß setzte. Er wusste nicht einmal, wie weit die Akademie von der Stadt entfernt lag. Allein, mitten im Nichts, beklagte Scott sein Schicksal und betete, dass es in der Gegend keine wilden Tiere mehr gab. Und zu allem Übel kam jetzt auch noch Nebel auf, wahrscheinlich aus der nahen Bucht.
Als er schließlich vor dem Eisentor der Akademie stand, war der Nebel so dicht geworden, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sah. Das Tor war geschlossen und das Wachhäuschen leer. Zum Glück hatte jemand die Idee gehabt, draußen
Weitere Kostenlose Bücher